© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Menschenwürde
Karl Heinzen

In der Rangfolge der Grund- und Menschenrechte rangiert dasjenige auf Arbeit für unsere Regierung auf den hinteren Plätzen, sonst könnte sie – trotz Kosovo – auch nicht so zufrieden mit ihrer bisherigen Tätigkeit sein. Allerdings muß sie darüber keine Intervention der Staatengemeinschaft befürchten: Was ihr an Erfolgen gegen die Nicht-Beschäftigung fehlt, wird durch die vieltausendfache Auslöschung der Geringbeschäftigung mehr als kompensiert. Sie löst damit zugleich ihren Anspruch ein, Wirtschaftspolitik nicht länger ausschließlich durch die ökonomische Brille zu betrachten. Die Vertragsfreiheit am Arbeitsmarkt darf nicht dazu ausgenutzt werden, egoistische Erwerbsmotive gegen die Menschenwürde auszuspielen.

Wer für wenig Geld arbeitet, kann kaum etwas Wichtiges leisten, sonst würde man ihm mehr dafür bezahlen. Die Gesellschaft hat also keine Veranlassung, den massenhaft aufgelösten 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissen nachzutrauern. Sie sollte statt dessen die sittliche Chance, die in der neuen Muße liegt, anerkennen. Die geringe Bezahlung war schließlich nicht zuletzt auch der Ausdruck einer geringen sozialen Anerkennung der Verrichtung, zu der die Beschäftigten gezwungen wurden. Viele mußten dabei die entwürdigende Erfahrung machen, daß ihnen dadurch keineswegs die Tore zu besserer Qualifikation und lukrativeren Stellen geöffnet wurden, sie statt dessen in der schleichenden Gewöhnung an ihre marginalisierte Position im Arbeitsprozeß eine neue, demütigende Dienstboten-Mentalität annahmen. Aus diesem Teufelskreis der Dienstleistungsgesellschaft hat sie die Regierung nun befreit: Jede noch so lange Erwerbslosigkeit ist ein besseres Sprungbrett in die Zukunft als ein 630-Mark-Job aus der Ära des späten Kohl. Und, wie immer, ist auch dieser Einschnitt konform mit den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft: Es ist nicht staatlicher Zwang, der die Beschäftigungsverhältnisse aufkündigt, es ist die freie Entscheidung der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst. Wer auf das Geld zwingend angewiesen ist, kann seine Tätigkeit ja fortsetzen, er wird halt nur spürbar weniger als bisher verdienen. Dies ist ein angemessener Preis, den er an die Gemeinschaft dafür entrichtet, daß er fortfährt, ihren Vorstellungen von einem menschenwürdigen Miteinander aus materialistischen Motiven zuwiderzuhandeln. Viele kommen aber auch zur Einsicht und befreien sich aus der Abhängigkeit eines Beschäftigungsverhältnisses, dessen Zweck nur ein eingebildeter war. Der Markt wird entlastet: Das demokratische Gemeinwesen gewinnt an Kompetenz im Befinden darüber, was die Menschen tatsächlich brauchen können.

Nicht der Konsum – der Mensch steht wieder im Vordergrund. Niemand muß eine Renaissance des Keynesianismus befürchten: Die Kritik des unreflektierten, weil unbürgerlichen Konsum ist längst dem grünen Traditionsbestand entwachsen und Gemeingut geworden.


 
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