© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Neueröffnung des Reichstages: Nun endet endgültig die "Bonner Republik"
Ein Traum wird wahr
Heinrich Lummer

Neuneinhalb Jahre nach dem Fall der Mauer, achteinhalb Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und knapp sieben Jahre nach dem Umzugsbeschluß ist es vollbracht: Berlin ist nicht nur Hauptstadt der Deutschen, sondern seit Montag auch offiziell Parlamentssitz.

Es war nur eine knappe Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die am 20. Juni 1991 für den Umzug nach Berlin stimmte. Wenn die Befürworter Berlins damals auf dem "Alles oder Nichts" bestanden hätten, wäre die Mehrheit wohl gegen den Umzug gewesen. Die Bereitschaft, einen Kompromiß einzugehen, der Teile der Regierung in Bonn beließ, gab den Ausschlag für eine denkbar kleine Mehrheit. Manche vergessen das gelegentlich.

Was aufgrund der Nachkriegsgeschichte und der vielen Sonntagsreden zugunsten Berlins eine Selbstverständlichkeit hätte sein sollen, war schließlich das Ergebnis einer mühsamen Überzeugungsarbeit. Jahrelang noch wurde die Entscheidung in Frage gestellt und sollte revidiert werden. Gott sei Dank blieb es dabei, und das ist gut so. Gut so für Berlin und gut so für Deutschland. Lassen wir das Nachkarten, freuen wir uns. Der Reichstag hat sein Dornröschendasein hinter sich, er wird sich mit Leben füllen.

Berlin, das mit viel Geld, Geduld und Glück als kulturelle Metropole aufrechterhalten wurde, wird nun wieder politische Metropole. Manche meinen, der Ortswechsel symbolisiere den Aufbruch in die Berliner Republik und führe zu einem Wechsel der politischen Richtung. Dafür gibt es indes keine Veranlassung. Bonner und Berliner Republik sind Begriffe, die Wunschvorstellungen oder Befürchtungen kennzeichnen sollen. Allein der Ortswechsel wird die deutsche Politik nicht ändern. Der Umzug wird keinen Bruch bedeuten.

Wenn der Umzug zeitlich beinahe mit einem Koalitionswechsel zusammenfällt, dann sind die sich daraus ergebenden Änderungen weder Bonn noch Berlin anzulasten. Wenn der Umzug beinahe mit einem Kriegsbeginn zusammenfällt, der auch Deutschlands Weg in die Normalität signalisiert, dann hat der Ortswechsel damit nichts zu tun. Es mag sein, daß die Bonner Idylle andere Politiker hervorbringt als eine freche Weltstadt, deren Bürger oft herben Scham zur Schau tragen. Das politische Umfeld wird sich in der Tat verändern. Aber das schadet weder den Berlinern noch den Bundestagsabgeordneten. Wieder Hauptstadt werden war schwer, wieder Hauptstadt sein mag noch schwerer werden. Nun ist Berlin nicht mehr nur ein Bundesland oder eine Stadt in Brandenburg. Das Symbol der Teilung mit Stacheldraht und Schießbefehl an der Mauer gehört endgültig der Vergangenheit an. Auch die damit verbundene Sympathie. Wenn man jetzt auf diese Stadt schaut, wird der Blick kritischer sein.

Berlin ist wieder Hauptstadt aller Deutschen und insoweit Symbol der Einheit. Es gibt Reserviertheiten, die überwunden werden müssen. Wenn es als preußische Stadt die Tugenden eben jenes Staates praktizieren würde, könnte man auch das Wohlwollen der Bayern gewinnen. Wenn die Berliner Politiker darauf verzichten, Deutschland nach der Wiedervereinigung als protestantisches Heer zu bezeichnen, dann würden die rheinischen Katholiken das lieber sehen. Durch die neuen Länder ist Deutschland im übrigen nicht protestantischer, sondern allenfalls atheistischer geworden.

Kurzum: Berlin muß sich als Hauptstadt aller Deutschen bewähren. Auch jene gehört es zu überzeugen, die nach der Wiedervereinigung Berlin nicht mehr wollten. Danach muß die Stadt ihr Ansehen und Aussehen so gestalten, daß alle Freude daran haben und stolz sind. Insofern ist der Umzug auch eine Herausforderung für Berlin, die Leistung verlangt.

So wie der einheitliche deutsche Staat nicht mehr das Bismarckreich sein wird und nicht mehr ein Nationalstaat alter Prägung, so wird Berlin auch nicht mehr eine Hauptstadt sein wie früher. Berlin wird die Stadt sein, die den geläuterten Patriotismus ebenso repräsentiert wie die deutsche Einheit. Es hat die Verpflichtung, diese Einheit räumlich und inhaltlich wachsen zu lassen. Berlin wird kein alleiniges kulturelles und politisches Zentrum sein, sondern sich in kultureller Konkurrenz mit anderen Städten sehen. Es wird die Einheit in Vielfalt repräsentieren. Wie meinte 1980 der Bonner Gener-al-Anzeiger: "In seinen Traditionen der Anmaßung und Größe (…) aber auch seiner einzigartigen und reichen Vielfalt wird Berlin eine Hauptstadt der Deutschen sein und bleiben müssen." Das wird nicht ganz einfach sein, es lohnt den Fleiß der Tüchtigen.

 

Heinrich Lummer war Innensenator und Bürgermeister in Berlin


 
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