© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Türkei: Bei den Parlamentswahlen gewinnen Sozialdemokraten und Nationale
Ciller ist Zünglein an der Waage
Leberecht H. Maas

Bülent Ecevit – der kleine Mann mit dem Schnautzbart und der Arbeitermütze, dem man seine 73 Lebensjahre nicht ansieht, heißt der Sieger der türkischen Parlamentswahlen vom vergangenen Sonntag. Seine "Demokratische Linkspartei" DSP konnte ihren Stimmenanteil von 14,6 auf 22,2 Prozent steigern. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß Ecevit auch künftig die Geschicke des vorderasiatischen Landes mit europäischen Ambitionen leiten wird. Die Zugewinne der DSP gehen fast ausschließlich zu Lasten seiner bisherigen Bündnispartner: Mesut Yilmaz von der ANAP "Mutterlandspartei" und Deniz Baykal von der "Republikanischen Volkspartei" CHP. Sie büßten entsprechende Stimmenanteile ein. Die CHP fiel gar unter die Zehn-Prozent- Sperrklausel und ist nicht mehr im Parlament vertreten. Und damit fangen Ecevits Probleme an. Das größte: Er hat keine Mehrheit im Parlament, weil gleichzeitig die national orientierte MHP mit ihrem Vorsitzenden Devlet Bahceli ihren Stimmenanteil mehr als verdoppeln konnte und mit 18 Prozent Stimmenanteil die zweitstärkste Partei des Landes bildet.

Die national ausgerichtete MHP gewann vornehmlich von der islamischen Tugendpartei, die von 21 auf 15,1 Prozent absackte, und der DYP unter der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller, die mit 12,1 Prozent nur knapp die Zehn-Prozent-Sperrklausel überwinden konnte. Die Kurdenpartei Hadep scheiterte erwartungsgemäß wie schon bei den vorhergehenden Wahlen. Allerdings gelang es ihr bei den gleichzeitig stattfindenen Kommunalwahlen in drei größeren Städten die Bürgermeisterposten zu erobern. Auch die islamische Tugendpartei war kommunal erfolgreich. Sie verteidigte die Bürgermeistereien von Ankara und Istanbul. Die Popularität ergibt sich aus dem harten Kurs gegen Korruption der islamisch orientierten Bürgermeister der beiden größten Städte des Landes.

Das komplizierte Wahlrecht bringt es mit sich, daß die Parlamentssitzverteilung zuweilen nicht die richtigen Stimmenverhältnisse wiederspiegelt. Die islamische FP profitierte davon, da sie in den starken Regionen ihre Kandidaten durchbringen konnte. Die Regierungsbildung wird für Ministerpräsident Ecevit schwierig, denn die beiden "Schmuddelkinder" der Republik MHP und FP sollen nach dem Willen der allmächtigen Militärs von der Macht ferngehalten werden.

So bleibt möglicherweise Frau Ciller vorbehalten zu entscheiden, wer die Regierung bildet. Schon einmal verhalf sie den Religiösen zur Macht, als sie die Wahl von Necmetin Erbakan zum Ministerpräsident ermöglichte. Heute ist das allerdings ungleich schwieriger, die Forderungen der Regligiösen abzuwehren.

Egal, wie Frau Ciller sich entscheiden wird, sie wird sich ihre "wohlabgewogene" Entscheidung teuer bezahlen lassen – politisch versteht sich.


 
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