© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Vergessene Schriftsteller (III): Rudolf Borchardt
Poet, Prophet, Pamphletist
Baal Müller

"Wir sind das einzige Volk der Welt, das in seinen Tageszeitungen, wo das Politische aufhört, von dem anonymen Abhube des Schreibergewerbes, von dem unsagbaren und unfaßbaren Proletariat, das wir ’Schriftsteller‘ nennen, belehrt, beplaudert, unterhalten oder auch nur berührt wird [...]", sagt Rudolf Borchardt 1929 in einem Vortrag mit dem stolzen und ein wenig weltfremden Titel "Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur".

Es erscheint daher fast als ein Frevel, wenn sich einer aus dieser Zunft der Schreiberlinge, eine "kleine Existenz mit blindem Allerweltsnamen" (letzteres vielleicht doch nicht) siebzig Jahre später erdreistet, ihr Publikum gerade in einem von Borchardt so gehaßten Feuilleton über diesen hochfahrenden Mann zu "beplaudern". Vielleicht wird das Vergehen dadurch ein wenig entschuldbar, daß sich der Dichter selbst allzuhäufig in seinen zahlreichen Reden und Essays von seiner polemischen Leidenschaft in die Niederungen des Zeitgeistes hinabziehen ließ.

Rudolf Borchardt vertrat in seiner selbstzugemessenen Rolle als praeceptor Germaniae einen elitären und alles Niedere, Populäre unduldsam abweisenden Standpunkt – fast möchte man sagen eine Art militärischen Posten – im Dienste von Poesie und Politik.

So sehr man ihm einzelne Tiraden über die Banauserei des Kulturbetriebs, den geistigen und staatlichen Verfall Deutschlands, über Spießbürgertum und Proletariat als überzogen und krampfhaft nostalgisch ankreiden oder aus heutiger Sicht wenigstens relativieren möchte, so wenig kann man dem politischen Denker und vor allem dem meisterhaften Beherrscher des Wortes eine grundsätzliche Berechtigung seines Anspruchs versagen.

Maßlose Polemik und formstrenge Lyrik, elfenbeintürmerner Idealismus und subtile Zeitanalyse prägen sein Werk gleichermaßen, wie sein Charakter zwischen fanatischer Ehrsucht, Neid, Hochstapelei und einem unbedingten, wenngleich nicht immer verwirklichten Pflichtbewußtsein hin und her schwankt. Alle europäischen Kultursprachen, daneben auch Arabisch und Sanskrit beherrschend und in der gesamten abendländischen Literatur beheimatet, hatte er den riesenhaften Anspruch, wie sein Freund Rudolf Alexander Schröder berichtet, "von jeder Art der dichterischen Gestaltung in Lyrik, Epik, Anekdote, Novelle, Roman und Drama, sowie von den legitimen Formen der öffentlichen Rede, des Essays und der gelehrten Abhandlung noch einmal ein Muster aufzustellen".

In der Tat umfaßt sein Gesamtwerk alle genannten Genres, wenngleich manche die angestrebte Musterhaftigkeit eher in der virtuosen Handhabung überlieferter Formen als in der schöpferischen Neugestaltung zeigen. Wenig konnte er mit dem Drama anfangen; in der Lyrik gelingt es ihm dagegen öfter, die Fesseln der Konvention zu sprengen und, etwa in der "Bacchischen Epiphanie", Bedeutendes zu leisten.

Bemerkenswert sind auch seine Epen, die der 1877 Geborene kurz nach der Jahrhundertwende verfaßte: der "Joram", der "Durant", "Die Beichte des Bocchino Belforti" und "Die halbgerettete Seele", die allerdings aufgrund ihrer archaisierenden Sprache für den heutigen Leser nur noch schwer zugänglich sind. Borchardts besondere Meisterschaft liegt aber – sehr im Gegensatz zu seinem Anspruch – in den moderneren Gattungen der Rede, des Essays und der Novelle. Vor allem in den letzteren behandelt er unerwartet lebensnahe Probleme: 1929 unter dem Titel "Das hoffnungslose Geschlecht" zusammengefaßt, schildern sie die gesellschaftlichen Umbrüche der zwanziger Jahre in einer erstaunlich saloppen und populären Sprache, die – was bei dem professionellen Redner ebenfalls erstaunt – reich an Dialogen ist. Seine Hauptthemen sind der Standesdünkel heruntergekommener Aristokraten und das rücksichtslose Empordrängen entwurzelter und snobistischer Parvenüs sowie vor allem auch das Verhältnis der Geschlechter im Zeitalter der Emanzipation. Borchardt, der selbst vom Vermögen seiner wohlhabenden Ehefrauen lebte, empfiehlt in seiner bekanntesten Erzählung "Der unwürdige Liebhaber" einen ritterlichen Umgang mit Frauen, der dem modernen Gleichheitsstreben grundsätzlich entgegengerichtet ist: Danach dürfe die Frau weder unterdrückt noch solle sie dem Manne völlig gleichgestellt werden; vielmehr sei sie von ihm zu beschützen.

Auf seine Weise hat Borchardt mit diesem Prinzip durchaus ernstgemacht: Man überliefert die Anekdote, daß er sich in seiner Jugend mit einem Mann, der eine Frau in der Öffentlichkeit schlug, duelliert und ihn durch einen Schuß in die Brust schwer verletzt habe. Der ungestüme Virilismus eines finanziell stets ungesicherten Schriftstellers, der gleichwohl einen dauerhaften publizistischen Broterwerb heftig ablehnte und sich sogar weigerte, den ihm angetragenen Doktortitel anzunehmen; sein jahrzehntelanges viveurhaftes Leben in der Toskana – deren Städten und Landschaften er mehrere Monographien widmete – bei gleichwohl genauester Beobachtung der Zustände in Deutschland oder sein pamphletistischer Kampf gegen den einst so innig verehrten Stefan George: All dies zeigt die Zerrissenheit und geniale Unmäßigkeit des gleichermaßen bohemistischen wie philiströsen Exzentrikers.

Borchardt selbst hat zwei Erfahrungen als Grundbestimmungen seines Lebens benannt: die Heimatlosigkeit des in Königsberg geborenen und in Rußland aufgewachsenen Protestanten jüdischer Abstammung und den geistigen Verfall seines historistischen und materialistischen Zeitalters, dem er mit einer Wiederbelebung der abendländischen Kultur und der Wiedererrichtung des untergegangenen, übernationalen Reiches begegnen wollte.

Im Zentrum seiner kulturellen wie auch seiner politischen Bestrebungen steht daher das Konzept einer "Schöpferischen Restauration". Er beschreibt sie in seiner gleichnamigen Rede 1927 als den Versuch, "Wunden zu heilen, Glieder zu schienen, Zerstreutes zu sammeln, Zerrissenes herzustellen, unser geqältes und gemartertes Volk, das wir seinen irdischen Peinigern zu entreißen ohnmächtig sind, in unserm Busen, – wie Goethe sagt, im Geiste – als eine Ganzheit zu restaurieren, durch eine restitutio in integrum, von dem wir jedes Stück mit der Heiligkeit befestigen, die dem Ganzen zukommt [...]". Schöpferisch soll diese Restauration insofern sein, als sie nicht das Unmögliche fordert, den historischen Prozeß einfach umzukehren, sondern an solche nicht verwirklichten Möglichkeiten der Geschichte anzuknüpfen sucht – ein Beispiel wäre etwa das "Welfische Kaisertum" –, die angeblich hätten verwirklicht werden können.

Diesem Prinzip folgen auch seine zahlreichen Übersetzungen, die vielleicht seine größten Leistungen darstellen: vor allem sein Hauptwerk, die Übertragung der "Divina Commedia", an der er rund 25 Jahre gearbeitet hat, bevor sie 1930 veröffentlicht werden konnte, sucht Dantes Werk weder ins heutige noch ins spätmittelalterliche Deutsch, sondern in eine ideale Sprache zu übersetzen, die zu Dantes Lebzeiten in Deutschland unter bestimmten Bedingungen gesprochen worden wäre. Die Frage, ob es vielleicht Gründe gab, warum sie nicht gesprochen wurde, wird von dem Idealisten nicht erwogen.

Es gehört zur Tragik seines Lebens, daß der am 10. Januar 1945 auf der Flucht vor den Nazis in einem Tiroler Grenzort Verstorbene, der das ursprüngliche Dichtertum als inspirierte Schau eines lorbeergekrönten Sehers feierte, selbst eher das gewesen ist, was er von diesem als zivilisatorisches Gegenbild streng unterschied: ein Literat.


 
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