© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Kino: "Idioten" des dänischen Regisseurs Lars von Trier
Gehobenes Amateurvideo
Ellen Kositza

"DOGMA 95" nennt sich ein dänisches Filmregisseur-Kollektiv, welches sich 1995 in Kopenhagen in der Absicht formierte, "bestimmten Tendenzen im modernen Kino entgegenzuwirken". Darunter kann man sich nun allerlei vorstellen, und das grimmige "DOGMA 95" als Name und Symbol mit leicht martialischem Beiklang evoziert dabei immerhin so etwas wie Kunst, wie Form. Prominentester Unterzeichner des Kopenhagener Manifestes ist Lars von Trier, Regisseur des grandiosen "Breaking the Waves", der kürzlich auch im deutschen Fernsehen zu sehen war und noch unbeleckt der DOGMA-Postulate produziert wurde.

Sein neuer Kinofilm "Idioten" scheint angelehnt an das Motto einer schon etwas älteren Limo-Reklame: "Sind wir nicht alle ein bißchen bluna?" Ja, sind wir alle nicht etwas verrückt, und: kommt, laßt uns den Idioten in uns entdecken, fordert uns Lars von Trier auf.

Eine Gruppe erwachsener Menschen zwischen etwa 25 und 40 Jahren leben in einer von ihnen halblegal besetzten Villa zusammen und führen ein seltsames Projekt durch: Sie treten in der Öffentlichkeit gemeinsam als geistig Behinderte auf; lallend, fummelnd und gänzlich unverschämt besuchen sie Schwimmbäder und Restaurants und besichtigen Fabriken. Protest gegen die bürgerliche und selbstverständlich faschistische Gesellschaft ist das wohl wichtigste Stimulans, Selbsterfahrung als Ausleben von "Aggression und Neugier sowie unkontrollierter, egoistischer und primitiver Sexualität" kommt hinzu. Und das war’s.

Es gibt zwar noch eine kleine, unscheinbare Geschichte in der Geschichte, wo es um die von Identitätsproblemen geplagte Karen geht, die sich den "Idioten" aus Sympathie anschließt, ohne zunächst zu ahnen, daß sie in ein makabres Experiment verwickelt ist, doch ist diese Nebenhandlung nicht wirklich von Belang.

Klar, von Trier "jongliert mit dem Konzept des Normalen", wie er es ausdrückt, aber ist das nicht normal? Es steckt keine wirklich neue Aussage in der Beschreibung dieses idiotischen Projekts, vielmehr ist es noch einmal die unkritische und schlußendlich auch langweilige Auffrischung all jener "großen Erzählungen" der letzten Jahrzehnte: Antifaschismus, Individualismus bei gleichzeitigem Bemühen um das Kollektiv, Pornographie und die Gleichheit aller Menschen.

In "Idioten" zeichnet von Trier außer für die Regie auch für Kamera und Drehbuch verantwortlich, wobei dies nur scheinbar einen immensen Aufgabenbereich bedeutet, denn zumindest bis zu einem gewissen Punkt hatten die Schauspieler freie Hand bei der Ausfüllung ihrer Rollen. "Mal sehen, was wir machen und wie wir uns dabei fühlen", beschreibt von Trier dieses Motto.

Inwiefern zeigt sich nun hierin die Akzeptanz eines selbstauferlegten Dogmas? "DOGMA 95" bekämpft nach Selbstaussage des Regisseurkollektivs "Maske, Illusion und dramaturgische Vorhersehbarkeit", und so legten außer Lars von Trier noch drei andere dänische Regisseure den selbstformulierten "Schwur der Keuschheit" ab, der zehn Ver- und Gebote beinhaltet: ein "Nein etwa zu Requisiten, zu künstlichen Beleuchtungstechniken, zu optischen Spielereien (worunter auch Schwarz-Weiß-Filme fallen); inhaltlich ausgeschlossen sind zeitliche und geographische Verfremdungen, Genrefilme und "oberflächliche Action", wobei letzter Punkt durch ein Verbot von "Morden, Waffen etc." definiert wird.

Von Trier beschreibt die Entwicklung der DOGMA-Regeln als dem Wunsch entsprungen, sich "Autoritäten und Vorschriften" zu unterwerfen, die er in seiner "politisch linksstehenden Erziehung" nie kennengelernt habe. Herausgekommen ist inhaltlich etwas, was dem modernen amerikanischen Film zwar wirklich den Rücken kehrt, allein dadurch jedoch nicht innovativ oder überhaupt "besonders" ist. Formal entstanden ist tatsächlich etwas Reaktionäres; rückwärtsgewandt in dem Sinne, daß der Verzicht auf moderne filmische Hilfsmittel eben keine ästhetische Schlichtheit, sondern einen ungelenken Dilettantismus bewirkt. Die Handkameras, die allein als Aufnahmemittel "erlaubt" sind, liefern verwackelte Bilder, hin und wieder werfen Kameraleute und Kabelträger ihre Schatten auf das Geschehen; kurz, allein vom formalästhetischen entspricht das Behagen beim Anschauen des Films dem Genuß eines gehobeneren Amateurvideos.

Womöglich liegt der große Clou einfach im Unterzeichnungsdatum des "DOGMA 95-Manifesto" – das war schließlich ein erster April ...


 
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