© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/99 30. April 1999


Ende des Schweigens
von Dieter Stein

Kein Volk in Europa fühlt sich von den Bildern vertriebener Kosovaren mehr berührt als die Deutschen. Über 150 Millionen Mark wurden bislang für Flüchtlinge gespendet. Im kollektiven Gedächtnis sind die Bilder eingebrannt: endlose Trecks, die bis zum Horizont reichen. Gedemütigte, geschlagene, entrechtete Menschen, denen man alles genommen hat – ihre Heimat, ihr Haus und Hof, ihre Würde. 20 Millionen Deutsche wurden in der Potsdamer Konferenz stellvertretend für Adolf Hitler durch die gewaltsame Vertreibung aus Pommern, Schlesien, Ostpreußen, dem Sudetenland und anderen osteuropäischen Staaten bestraft. Sie wurden zum Freiwild erklärt, vergewaltigt, erschlagen, ausgeraubt. Über 2,5 Millionen kamen ums Leben. Wer erinnert an sie?

Für das geteilte Restdeutschland waren die Vertriebenen eine ungeheure Herausforderung. Die Eingliederung bedeutete eine unermeßliche Leistung. Es gab aber auch Neid, Mißgunst – die Vertriebenen wurden als "Rucksackdeutsche" verächtlich gemacht, mußten bei Null anfangen. Die Interessen der Vertriebenen wurde im Ost-West-Konflikt und im Zuge der Wiedervereinigung restlos geopfert, ihre politische Kraft im Dickicht landsmannschaftlicher Reservate unter Protektion von Bund, Ländern und Parteien (insbesondere der CDU) neutralisiert.

Mit unbeschreiblicher Arroganz gehen Politiker aller Parteien mit den Gefühlen der Vertriebenen um. Realpolitische Notwendigkeiten sind das eine, Erinnerung und Respekt vor dem Leid eigener Landsleute das andere. Dazu passen Äußerungen des Außenministers Fischer, der in Warschau das Anliegen der Vertriebenen als "anachronistisch und absurd" bezeichnete. Der Thüringer Innenminister Dewes (SPD) nannte ein Denkmal für die Opfer der Vertreibung "einen Ort der Verherrlichung nationalistischen Denkens". Und Verteidigungsminister Scharping will eine Bundeswehrkaserne nach dem für die Vertreibung mitverantwortlichen britischen Premier Churchill benennen lassen.

Nun entdecken Zeitungen, von denen man es nicht erwartet hätte, dieses deutsche Tabu-Thema. Gar in der Zeit schreibt Jan Ross über die "Vergessenen Vertriebenen": "Die Rede von den Vertreibungsverbrechen stand unter Aufrechnungsverdacht. Daher das gute Gewissen, das jeder haben konnte, der von dieser Vergangenheit nichts wissen wollte ... dieser Schlußstrich gilt als politisch korrekt. Er ist aber doch das Spiegelbild jener anderen Vergangenheitsunlust, die nicht mehr immerzu an deutsche Schuld erinnert werden möchte." Es wäre an der Zeit, daß im Zuge des Kosovo-Krieges eine Aufarbeitung in Kino-Filmen, Wanderausstellungen, Kunst und Literatur neue Gestalt gewinnt.


 
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