© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/99 30. April 1999


Joseph Joubert: Zum 175. Todestag des französischen Mystikers
Horizonte des Geheimnisvollen
Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Joseph Joubert, der vor 175 Jahren gestorben ist, am 4. Mai 1824, wird zu den sogenannten Moralisten gezählt. Von Männern wie Montaigne und La Rochefoucauld unterscheidet er sich jedoch durch seine metaphysische Grundhaltung. Man kann ihn, ohne zu übertreiben, als christlichen Platoniker bezeichnen. Mit allen transzendenzoffenen Denkern, im Grunde mit der gesamten klassischen Philosophie hält Joubert es für gewiß, daß der auf sich gestellte, isolierte Menschengeist nur Irrtümer, nicht aber Wahrheiten "erzeugen" oder produzieren könne. Wahrheiten werden nicht gemacht oder hergestellt; sie sind schon da. An uns liegt es, sie zu finden, sichtbar zu machen und immer wieder an sie zu erinnern. Ebenso platonischer wie mystischer Tradition nahestehend ist Jouberts Ansicht, daß den besonnenen Menschen an den materiellen Dingen gerade dies am meisten entzückt, was durch Schönheit, Formvollendung, Duft und Glanz auf ein Geistiges verweist, auf das, was Goethe gelegentlich "das Vorwaltende des oberen Leitenden" nennt. Bedrückt und niedergezogen vom Stofflichen, seien wir am innigsten von dem ergriffen, was durch seine Feinheit, Zartheit und Anmut uns durch unsichtbare Strömungen höher trage als unsere Sinne reichen: "Alle Wahrheiten, die unser Geist noch entdecken kann, sind eine Vorbereitung auf das unsterbliche Leben und eine Vorwegnahme seiner geistigen Seligkeit."

Joseph Joubert wurde er am 7. Mai 1754 in dem kleinen Städtchen Montignac geboren. Überwiegend alte Bücher und einige bedeutsame Freundschaften prägten Jouberts zurückgezogenes Dasein. Zu diesen Freunden zählten der Schriftsteller, Diplomat und Politiker Francois-René de Chateaubriand und Madame Pauline de Beaumont, eine ätherische, beinahe elfenhafte Aristokratin, die einen vielbesuchten literarischen Salon unterhielt. Von wenigen Reisen und kurzfristiger Amtstätigkeit als Friedensrichter abgesehen, führte Joseph Joubert das Leben eines Privatgelehrten. Seine Hauptbeschäftigung bestand darin, viele Briefe an männliche wie weibliche Freunde zu schreiben und, fast Tag für Tag, jahraus und jahrein, seine Einfälle, Lesefrüchte und Gedankenblitze schriftlich festzuhalten. Er tat dies auf losen Zetteln, die gesammelt sechzig ansehnliche Bündel ergaben, und in kleinen Heften, die insgesamt rund 20.000 Seiten umfassen.

Joubert starb, ohne ein einziges Werk veröffentlicht zu haben. Wenn ihn Gönner und Bewunderer bedrängten, seine Einsichten und Gedankengänge zu publizieren, pflegte er gern zu erwidern: "Noch nicht." Sein Unglück bestünde darin, daß er so ehrgeizig sei, ein ganzes Buch auf eine einzigen Seite, eine ganze Seite in einem Satz und diesen Satz endlich in nur einem Wort geballt zusammenzufassen. Erst vierzehn Jahre nach Jouberts Tod brachte Chateaubriand eine erste Auswahl aus dessen "Pensées" heraus. Gut ein Jahrhundert darauf, im Jahre 1938, hat André Beaunier die gesamte literarische Hinterlassenschaft dieses sublimen Einzelgängers und Selbstdenkers in zwei voluminösen Bänden zugänglich gemacht: "Les Carnets, Textes recueilles sur les manuscrits autographes". Sie umfassen beinahe 2.000 Seiten. Im deutschen Sprachraum ist Joubert, trotz der Bemühungen des aus Wien stammenden Romanisten Fritz Schalk (1902–1980), nach wie vor so gut wie unbekannt. In den allermeisten philosophischen, theologischen und literaturhistorischen Nachschlagewerken fehlt sein Name.

In Joubert steckt noch die geistige Eleganz der Abendröte des Ancien regime, des Jahrhundert des Rokoko, in dem er geboren ist. Anders als Voltaire, Diderot oder Jan d’Alemnert erweist er sich jedoch als religiöser Denker, als Mystiker des Lichtes. Joubert ist ein Meister des meditativen Lakonismus. Sein Werk enthält Aphorismen, Kurzessays, Bonmots, Aperçus, Fragmente, Einzelsätze, Stichworte, Keime zu künftigen Essays, Traktaten und Kritiken. Es gibt eigentlich keinen wesentlichen Bereich, über den er sich nicht geistvoll geäußert hat, handle es sich nun um Theologie, Kosmologie, antike Kunst, Theater, Moral, Fragen des Stils, der Ästhetik und Politik. Er schreibt über Leidenschaften, Lebensstadien, Völker, über Gesetzgebung, Frauen, Weisheit, Wahrheit und Irrtum, über die Physiognomie seines eigenen Zeitalters – und über die Schönheit, die ihm als metaphysische Signatur erscheint: "Dichter haben hundertmal mehr gesunden Sinn als die Philosophen. Indem sie das Schöne suchen, treffen sie auf mehr Wahrheiten als die Philosophen auf der Suche nach dem Wahren finden. – Die reine Geistigkeit mitten im Weltlichen kann nur das Glück eines Augenblicks sein, aber dieser eine Augenblick verbreitet in uns eine Seligkeit für Monate und Jahre! – Man muß gegen die liberalen Ideen der Zeit die moralischen Ideen aller Zeiten halten."

Welche Seite man auch aufschlägt, es gibt kaum eine, die nicht einige Perlen und Juwelen enthält, zu besinnlichem Betrachten und Weiterdenken einladend. Chateaubriand nannte seinen Freund und Berater Joubert scherzend einen Egoisten, der nur an andere denke. Als einen "wunderbaren Dichter des Lichts" preist ihn Georges Poulet, der 1966 eine handliche Auswahl aus Jouberts Maximen und Reflexionen herausgegeben hat. Joubert gehört zu den spärlich gesäten Autoren, von denen man sagen darf, daß die Erinnerung an ihre Werke ebenso süß ist wie deren Lektüre. Wer in Jouberts geistiges Universum hineingefunden hat, kann nicht mehr so arm sein, wie er vorher gewesen war.

Dieser urbane Repräsentant einer "saintete profane" ist ein leiser, ein unaufdringlicher und weiträumiger Denker. Das Lärmende, Rohe und Fanatische ist ihm ebenso fremd, ja aufs äußerste widerwärtig, wie die damit verschwisterte Hast. Getöse, Mangel an Distanz, Schamlosigkeit ekeln seinen aristokratischen Sinn. Er ist kein Systematiker, der seine Gedanken in zusammenhängender Rede darlegt. Seine Sätze und Aphorismen sind bald winzige, bald mehr oder weniger ausgedehnte Inseln oder Archipele. Die klassisch klare Aussage, die sich der lapidaren Knappheit von Sentenzen, Maximen oder antiken Apophthegmen nähert, ist von ozeanischer Weiträumigkeit umgeben, von Horizonten des Geheimnisvollen, einer von antiker Weisheit erhellten christlichen Gläubigkeit. Wer diesen gelegentlich sibyllinisch wirkenden Franzosen verstehen will, beherzige seinen immer wieder, auf hundert verschiedenen Zetteln abgewandelten Ratschlag: "Wenn du gut denken, sprechen, schreiben und handeln willst, so erschaffe dir zuerst den entsprechenden Ort". Oder: "Jede Flamme braucht leeren Raum um sich, wenn sie leuchten soll. Ohne Raum kein Licht."


 
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