© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/99 30. April 1999


Gewalt als Kultur
von Silke Lührmann

Die Eskalation realer Gewalt gilt neben der gesellschaftlichen Fragmentierung im Zuge sogenannter identity politics ethnischer Minderheiten und dem "Gemeinschaftsverlust" als eine der zentralen Bedrohungen für die amerikanische Demokratie im ausgehenden 20. Jahrhundert. Ihr entspricht eine Eskalation medialer, d.h. dargestellter Gewalt. Begünstigt durch die technische Entwicklung einerseits und eine wachsende Toleranz seitens Zensur und Publikum andererseits, prägen zunehmend graphisch-explizite, "realistische" Gewaltszenen seit den 60er Jahren sowohl die Kassenschlager des Kinos als auch die Literatur. Die Debatte um den Kausalzusammenhang zwischen beiden Phänomenen und die ästhetischen oder sozialen Funktionen dargestellter Gewalt wird spätestens seit den 60er Jahren mit ständig zunehmender Polemik und Hysterie geführt. Betroffene Filmregisseure und Produzenten wie Oliver Stone und Quentin Tarantino leugnen einen solchen Zusammenhang im Namen künstlerischer Ausdrucksfreiheit zumeist kategorisch oder behaupten gar, der passive Konsum von Gewalt sei eine notwendige Kompensation für die Frustrationen des in der Massengesellschaft sich selbst entfremdeten Individuums und ersetze ihre aktive Ausübung. Soziologische Experimente unterstützen teils diese These, teils kommen sie zu genau entgegengesetzten Ergebnissen: Gewaltdarstellungen steigerten den Aggressionspegel und senkten gleichzeitig die Hemmschwelle des Zuschauers. Wieder andere Stimmen sehen beides – die Entgrenzung realer wie imaginärer, fiktiver Gewalt – als Symptome von Werteverlust und Permissivität, als Ausdruck eines "expressiven Individualismus" (R. Bellah).

So wird Oliver Stone beispielsweise vorgeworfen, sein Film "Natural Born Killers"(1994) – eine postmoderne Version der Bonnie und Clyde-Geschichte, in der zwei gesellschaftliche Außenseiter zueinander finden, eine Spur blutiger Verbrechen quer durch die amerikanische Kleinstadtidylle legen und bei der polizeilichen Verfolgungsjagd von den Medien zu Helden "gegen den Rest der Welt" stilisiert werden – habe eine Reihe von Imitationstätern zu ähnlichen Mordserien inspiriert. Dieses Argument ist sicherlich primär als juristische Verteidigungs- bzw. Schuldzuweisungsstrategie zu verstehen. John Grisham, Rechtsanwalt und Erfolgsautor von Kriminalromanen, schlägt sogar vor, Filme als Produkte "ähnlich etwa einem Silikon-Brustimplantat" zu behandeln, so daß der Verbraucher den Hersteller verklagen kann, sollte sich das Produkt als schädlich erweisen. (In einer Gesellschaft, in der Lungenkrebskranke erfolgreich gegen Zigarettenfirmen prozessieren, ist dieser Gedanke weniger absurd, als er zunächst klingen mag.)

Gleichzeitig handelt es sich jedoch um eine diametrale Umkehrung des klassisch-realistischen Verständnisses von Kunst als Mimesis des Wirklichen, das Stone vertritt, wenn er zu seiner Rechtfertigung anführt, Gewalt entstehe nicht im Kino, sondern in der Welt. Die Komplexität seines eigenen Filmes straft diese Behauptung Lügen: "Natural Born Killers" ist die Darstellung einer durch und durch medialisierten, artifiziellen Lebenswelt; Realität und Inszenierung, Sein und Schein sind derart miteinander verflochten, daß der Regisseur selbst sie nicht mehr zu trennen vermag. Schon der Titel, auf den ersten Blick ein Zitat des modernistischen, Nietzscheanischen Verständnisses von Gewalt als existenzieller Selbstverwirklichung ist irreführend, weil ironisch. Mickey und Mallory – so die Logik des Films – sind (auch) kulturell konstruierte Killer. Die allseits präsente Gewaltbereitschaft in ihrem Umfeld hat sie ebenso zu dem gemacht, was sie sind, wie der Jubel, mit dem die Medien ihre "Karriere" verfolgen. Töten wird so zur bloßen Lebensstilentscheidung. "Ich bin kein Serienkiller", sagt einer von Mickeys und Mallorys zahlreichen jugendlichen Fans in einem Fernsehinterview. "Aber wenn ich ein Serienkiller wäre, dann würde ich gern so sein wie Mickey und Mallory."

Wieviel Schuld tragen also die Medien? Die Frage, die US-Präsident Clinton anläßlich des Massakers in der Littletoner Schule aufwarf, ist nicht neu. Daß sie von Politikern geradezu ritualistisch angestimmt wird, sobald irgendwo ein aufsehenerregendes Verbrechen begangen wird, sollte mißtrauisch stimmen. Denn natürlich ist es – für alle Betroffenen – opportun, die Schuld außerhalb des eigenen Verantwortungsbereiches zu suchen. (Man könnte sich statt dessen auch fragen, welche Signale eine Regierung ihren Bürgern gibt, die meint, alle Konflikte seien mit Bomben zu lösen.)

Zuverlässig und eindeutig, geschweige denn pauschal läßt sich diese Frage nicht beantworten. Sie ist ein Politikum, zumal sie unmittelbar mit der empfindlichen Problematik von Zensur und Meinungsfreiheit, Kunst und moralischer Verantwortung zusammenhängt. Fest steht zum einen: Selbst für Anhänger eines Weltbildes, das die Realität diskursiv und daher nur als Fiktion bzw. Text erfahrbar begreift, leuchtet die Unterscheidbarkeit zwischen den Wirkungen realer und fiktionaler Gewalt unmittelbar ein. Dargestellte Gewalt kann symbolisches Handeln, Metapher oder "Performanz" sein; sie kann befreiend und sogar kreativ wirken, Angst, Ekel, Erschütterung oder – wie allzu häufig in zeitgenössischen Texten – Amüsement hervorrufen. Reale Gewalt tötet.

Fest steht aber auch, daß wohl keine Firma Jahr für Jahr riesige Geldsummen in Fernseh- und Kinowerbung investieren würde, wenn nicht davon auszugehen wäre, daß diese Werbung beim Zuschauer eine Wirkung erzielt. Und es scheint absurd anzunehmen, die Macht der Bilder, Begierden zu suggerieren, beschränke sich auf diejenigen visuellen Eindrücke, die eigens zu diesem Zweck hergestellt werden, ließe sich aber etwa beim Sehen eines Spielfilms abschalten. Ebenso unzweifelhaft ist wohl, daß es Menschen gibt, die aufgrund labiler Persönlichkeitsstrukturen anfälliger sind für mediale Stimulationen.

Historisch betrachtet, läßt sich gerade in der amerikanischen Kultur ein Funktionswandel dargestellter Gewalt ausmachen: In der Tradition vor allem der amerikanischen Moderne kathartisches Erlebnis existenzieller Realität, degeneriert sie in neueren Texten vom Daseins- oder zumindest Darstellungsextrem zum erzählerischen Klischee. Es sei zu vermuten, schreibt der österreichische Amerikanist Arno Heller 1990, "daß die über große Zeiträume unvermindert andauernde Produktion formelhaft ablaufender Gewaltphantasien durch die Unterhaltungsindustrie sowie deren bereitwillige Konsumierung durch ein breites Massenpublikum auf ein gemeinsames ideologisches Reservoir von Wert- und Verhaltensvorstellungen zurückgreift. (...) Die lange Tradition tolerierter individueller Gewalt als das Recht des Besseren oder auch nur Stärkeren im sozialdarwinistischen Lebenskampf ist einer dieser in zahlreichen Varianten auftretenden, rational kaum noch hinterfragten volkstümlichen Mythen."

Daß die Geschichte der USA von einer Gewalttätigkeit geprägt ist, die der Gewaltfaszination ihrer Kulturgeschichte in nichts nachsteht, scheint eine banale Feststellung; zu einem Zeitpunkt, da sich auf den Fernsehschirmen rund um die (westliche) Welt die Gewaltorgien made in Hollywood mit den letzten Schreckensnachrichten von Jugendgangs, Amokschützen bei McDonald‘s, brutalen Touristenmorden in Miami, Attentaten auf Prominente, Bombenanschlägen in Schulen abwechseln. Ganz zu schweigen von der anhaltenden Bereitschaft, das Recht des Stärkeren als Mittel zur Lösung politischer wie sozialer Konflikte einzusetzen, oder der Tatsache, daß noch immer eine Mehrheit der Amerikaner die Todesstrafe befürwortet.

Man muß sich aber bewußtmachen, wie sehr diese historische Neigung zur Gewalt im Widerspruch steht zu dem Selbstverständnis des amerikanischen Staates als auf den Vernunftsprinzipien der Aufklärung basierender Demokratie. Der amerikanische Gegenwartsschriftsteller Norman Mailer sprach in diesem Zusammenhang von einem "unterirdischen Fluß des unverbrauchten wilden, einsamen und romantischen Begehrens, jene Verdichtung von Ekstase und Gewalt, die das Traumleben der Nation ausmacht". Heller zufolge ist Gewalt hingegen keineswegs die "Kehrseite des American Dream", sondern "im Gegenteil ein integrativer Bestandteil des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Werdegangs der USA". Aus englischer Sicht behauptete D. H. Lawrence 1923 provokant, Demokratie sei in Nordamerika "nie dasselbe gewesen wie Freiheit in Europa. In Europa war die Freiheit ein großartiger Lebensimpuls. (...) Die amerikanische Demokratie dagegen war immer eine Art Mord am Selbst. Oder an jemand anderem."

Entsprechend gilt die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts als Abbild dieser "in der gesamten amerikanischen Geschichte wirksame(n) latenten Gewaltideologie" (Heller), als notwendiges Ventil imaginären Überschusses. Gleichzeitig dient hier die Begegnung mit, und in der Moderne zunehmend Sehnsucht nach, Gewalt als Extrem existenzieller Intensität in der Regel der um so besseren Rückführung in eine rationale gesellschaftliche und narrative Ordnung: Es handelt sich bei Gewaltdarstellungen also um einen Läuterungsprozeß, den Autor, Protagonist und Leser idealtypischerweise parallel durchlaufen. (Allerdings kann der Protagonist daran zugrundegehen bzw. der Autor oder Leser seiner eigenen Gewaltfaszination erliegen.) Die u. a. von Friedrich Nietzsche in Texten wie "Jenseits von Gut und Böse" und "Die Genealogie der Moral" artikulierte Widersprüchlichkeit zwischen Demokratie und (menschlicher) Natur wirkt so letztendlich als zivilisationsstabilisierendes Element. Daher rührt auch die zentrale Rolle der frontier – der jeweiligen Grenze der Westexpansion und damit Trennlinie zwischen Wildnis und Zivilisation. Immer wieder wird sie als Raum dargestellt, in dem Gut (Zivilisation, Demokratie, Vernunft) und Böse (Wildnis, Naturgesetz, menschliche Natur) konflikthaft aufeinanderprallen.

Es ist kein Zufall, daß diese Nietzscheanische Widersprüchlichkeit sich gerade in der Zivilisationsmüdigkeit der Moderne verstärkt niederzuschlagen beginnt, dann aber vor allem in der Nachkriegszeit zunehmend nach innen gerichtet ist und in Gewaltphantasien ihren Ausdruck findet. Die amerikanische Geschichte hat diesen Widerspruch immer wieder zu diffundieren versucht, indem sie der Demokratie eine Wirtschaftsform zur Seite stellte, die sich die (laut Nietzsche) natürlichen Eigenschaften des Menschen wie Habgier, Gewaltbereitschaft, "Willen zur Macht" zunutze macht.

In Truman Capotes "In Cold Blood" (1965; dt. "Kaltblütig") und Norman Mailers "The Executioner’s Song" (1979), beides "dokumentarische Romane", wird die literarische Wiedergabe realer Gewalt zum Versuch, Taten "nachzuvollziehen", deren Sinnlosigkeit ihre Täter aus der gesellschaftlichen Ordnung befreit und zu den "Autoren" ihrer eigenen Welten macht. Hier kommt das mangelnde Selbstwertgefühl des Einzelnen zum Ausdruck, das Alexis de Tocqueville bereits im frühen 19. Jahrhundert als Problem der amerikanischen Demokratie diagnostizierte. Kompensiert wird es durch die Anhäufung materieller Güter, wie es einer säkularisierten und korrumpierten Version der calvinistischen Prädestinationslehre entspricht. Heute nennt sich das conspicuous consumption (zur Schau gestellter Konsum), mit dem man den Nachbarn beweisen kann, daß man genauso gut – oder besser als sie – ist. Wem das nicht gelingt, wer von Klassenkameraden, Arbeitskollegen oder in der Nachbarschaft als Loser (Verlierer) abgestempelt wird, der hat immer noch die Möglichkeit, sich mit Gewalt Respekt zu verschaffen, dank der notorisch laxen Waffengesetze, ebenfalls ein Erbe der frontier-Mentalität mit ihrer Überbewertung individueller Handlungsfreiheit.

Filme wie Stones "Natural Born Killers" eröffnen wiederum eine neue Perspektive auf das Verhältnis zwischen Gewalt und Darstellung. Diese Perspektive entspricht am ehesten noch dem, was der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer "das Schweigen des Bildes" nennt – ein sehr schrilles "Schweigen" allerdings: gemeint ist natürlich die Verweigerung jeglichen moralischen Bezugs seitensder Gestaltungsinstanz ("ohne daß der Stil in irgendeiner Form moralisch oder historischwissend eingriffe"). Auch eine Schockwirkung kommt allenfalls zustande, indem der Rezipient die eigene Unschockierbarkeit erfährt.

Zynisch überspitzt: Solche Gewaltdarstellungen ermöglichen ihren Schöpfern, eigene Gewaltphantasien imaginär und visuell zu "verwirklichen", dabei massiven finanziellen Profit aus der Gewaltfaszination des Publikums zu schlagen und schließlich zu behaupten, sie täten nichts anderes, als der gesellschaftlichen Realität einen kritisch-brutalen Spiegel vorzuhalten. Letzteres mag sogar seine Berechtigung haben. Aber – gerade angesichts der ungeklärten Frage nach ihrer Wirkmacht: Könnte Kunst nicht auch den Ehrgeiz vertreten, besser zu sein als die Welt, der sie entspringt?

 

Silke Lührmann hat Literaturwissenschaft in Marburg und Yale studiert und schreibt zur Zeit an ihrer Dissertation zum Thema Gewalt und Fiktion.


 
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