© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Frankreich: Die Kosovo-Krise führt zum Erstarken des Gaullismus
Deutsche Kriegsschuld
Charles Brant

In Frankreich sind humanitäre Fragen an die Stelle der Politik getreten. Indessen haben die bellizistischen Intellektuellen freie Bahn. Präsident Jacques Chirac profitiert von dieser Situation genauso wie Premierminister Lionel Jospin. Gleichzeitig meldet die Bevölkerung Zweifel an der Strategie der Nato an und hofft auf ein Ende der Bombenangriffe.

Aus Washington, wo er an den Feiern zum 50. Jahrestag der Nato teilnahm, versprach der französische Präsident, die "eminente" Rolle fortzusetzen, die Frankreich bei dem Versuch spielt, Slobodan Milosevic "zur Vernunft zu bringen", wie er sich ausdrückte. In der vergangenen Woche empfing Jacques Chirac den albanischen Präsidenten.

Premierminister Jospin kommt ebenfalls nicht zur Ruhe. Am vorigen Wochenende besuchte er Albanien und Mazedonien. Er nutzte diese Gelegenheit, um seine unnachgiebige Position bei der Aufnahme von Flüchtlingen unter Beweis zu stellen und anzukündigen, daß Frankreich 2.000 aufnehmen wird.

Beide politischen Lager – das rechte wie das linke – nutzen die Bombardierung Serbiens zu ihren Gunsten. Zum einen, um die Auswirkungen skandalöser Affären zu verwischen, zum anderen zur Vertuschung eigener Unfähigkeit und Sicherung der nächsten Präsidentschaft. Jacques Chirac hat wahrscheinlich als erster begriffen, daß dieser Krieg, der im Namen großer Prinzipien geführt wird, ihm die langersehnte Gelegenheit bietet, sich ein neues Image zuzulegen. Daher auch seine Rührigkeit im Fahrwasser Madeleine Albrights und Bill Clintons.

Profilierungsversuche im Schatten des Krieges

Die Imagepflege geht Hand in Hand mit der Pflege der ideologischen Konformität. Sie wiederholt sich in den Verlautbarungen der politischen Klasse Frankreichs. Der Parteivorsitzende der Liberaldemokraten, Alain Madelin lieferte sich bei einer Fernsehdebatte eine erstaunliche Überbietungsschlacht mit Bernard Kouchner und Bernard-Henri Lévy. In der Tat ist Madelin, der in seiner Jugend in einer Bewegung der extremen Rechten aktiv war und dann zum Liberalismus konvertierte, unaufhörlich um seinen guten Ruf bemüht. Das wurde schon deutlich, als er angesichts der Pinochet-Affäre den Triumph des internationalen Rechts über die Gesetze souveräner Einzelstaaten begrüßte.

Ganz offensichtlich bietet die Tragödie der Kosovo-Flüchtlinge hervorragende Gelegenheiten, in der Pariser Gesellschaft eine gute Figur zu machen. In Frankreich liebt man die Posen. Bernard-Henri Lévy, der in grünem Soldatendrillich seine Philosophie von Tirana aus erörterte, ist keineswegs allein. Die Seiten der Tageszeitungen Libération und Le Monde stellen das Tag für Tag von neuem unter Beweis. Am vorvergangenen Samstag zum Beispiel gab Julia Kristeva, die als Lebensgefährtin von Philippe Solers gilt, dem derzeitigen ungekrönten König der französischen Intellektuellen, auf der Titelseite von Le Monde ihre Meinungen über "die geheimnisvolle Macht der Orthodoxie" und den darin enthaltenen Nihilismus zum besten.

Und um dem gutmenschlichen Kreuzzug eine europäische Dimension zu geben, gibt dieselbe Tageszeitung Vaclav Havel das Wort. Ohne die aus Tschechien vertriebenen Deutschen auch nur zu erwähnen, erklärte er: "Auch ich fühle mich als Albaner."

Die Flüchtlingstragödie hinderte Philippe Séguin keineswegs daran, als Vorsitzender des RPR zurückzutreten. Dieser Rücktritt hat selbstverständlich nicht das geringste mit dem Schicksal des Kosovos oder den Nato-Bombenangriffen zu tun, sondern ist lediglich die Antwort auf Intrigen, die Jacques Chirac sponnen hat, um seine eigene Partei zu stärken. So kommt auch die Alltagspolitik noch zu ihrem Recht.

Am 19. April kamen 308 Flüchtlinge aus dem Kosovo über Mazedonien in der südfranzösischen Stadt Lyon an. Premierminister Lionel Jospin kommentierte diese Nachricht mit dem Spruch: "Das ist ein Wassertropfen, aber ein bedeutsamer." Und er fügte hinzu: "Wir haben vor, da unten etwas zu unternehmen." Damit bekräftigte er die Absicht der französischen Regierung, alles zu tun, damit die Flüchtlinge nach Hause, ins Kosovo, zurückkehren können. Diese Haltung schockierte einen Teil der Linken. Insbesondere Daniel Cohn-Bendit kritisierte vor laufenden Fernsehkameras einen solchen Egoismus und verlangte, daß Frankreich die Kosovo-Albaner willkommen heißt und sich nicht länger gegen die Einbürgerung aller "Papierlosen" sperrt. Jean Tibéri, der Bürgermeister von Paris, appellierte in öffentlichen Aushängen zugunsten der Kosovo-Flüchtlinge an die Großzügigkeit der Pariser. Andere Bürgermeister sind seither seinem Beispiel gefolgt.

Lionel Jospin tritt seitdem kürzer, obwohl er genau weiß, daß Frankreich nicht in der Lage ist, Massen von albanischen Flüchtlingen aufzunehmen. Schon das Problem der nordafrikanischen Einwanderer, das ständig an den Stadträndern schwelt, wo von Zeit zu Zeit "Mini-Kosovos" aufflammen, läßt dies nicht zu. Von flüchtigen Betroffenheitsanfällen, stimuliert durch den Druck der Medien und der politischen Autoritäten, einmal abgesehen, sind die Franzosen es schon lange leid, "das ganze Elend der Welt" bei sich aufzunehmen, wie der Sozialist Michel Rocard es ausdrückte. Ein Verantwortlicher des Roten Kreuzes erklärte in einem Fernsehinterview, auf den Enthusiasmus und die Großzügigkeit der ersten Tage seien sehr bald die Zweifel der Franzosen bezüglich der Gebräuche und der Religion der Kosovo-Albaner gefolgt.

Die französische Presse läßt sich von der Nato den Ton angeben. Sie hängt Jamie Shea an den Lippen, wenn er seine verhängnisvollen Siegesbotschaften verkündet, und hat das Manifest "Die Europäer wollen Frieden" des "Kollektivs gegen den Krieg" (JF 14/99 berichtete) praktisch totgeschwiegen. Sie hat selbst den Appell des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn zensiert, der das "Dschungelgesetz" – das Recht des Stärkeren – anklagte. Einzig Le Figaro war bereit, den Text dieser Erklärung zu veröffentlichen. Durch einen seltsamen Zufall wurde der Text nach der ersten Ausgabe sofort wieder entfernt.

Indessen haben einige Journalisten begonnen, Fragen zu stellen. So zum Beispiel Jean-François Kahn, der sich zwar aus dem "Kollektiv gegen den Krieg" zurückzog. In der Zweiwochenschrift Marianne vom 12. April kommentierte er: "In 40 Jahre als Journalist ist mir nie, absolut niemals, nicht einmal während des Algerienkrieges, ein solcher propagandistischer Irrsinn, ein solcher intellektueller Terrorismus, eine solche Welle von Desinformationen, eine solche Flut von Lügen und Wahnvorstellungen, ein solcher Schwindel unter die Augen gekommen!"

Dieser "Schwindel" scheint nun ein Ende zu nehmen. Die Behauptung des seriösen Wall Street Journal, die Nato habe die Propagandaschlacht bereits verloren, scheint sich zu bestätigen. Nach einer Umfrage, die Le Journal du Dimanche am 18. April veröffentlichte, sind 52 Prozent der Franzosen der Meinung, die Nato sei gescheitert. Eine weitere Umfrage, die von CSA durchgeführt und am 19. April publik gemacht wurde, zeigt denselben Prozentsatz von 52 Prozent, die dafür sind, "die Bombenangriffe zu beenden und auf der Stelle Verhandlungen mit Milosevic zu beginnen", um "eine gerechte und dauerhafte Lösung für das Kosovo zu finden".

Eine dritte Umfrage ist eine genauere Betrachtung wert. Sie wurde von CSA durchgeführt und am 11. April in der Tageszeitung Libération veröffentlicht. Ihr Thema: die Wahrnehmung der USA in Frankreich. Die Ergebnisse zeigen einen zunehmenden Widerstand in der öffentlichen Meinung gegen die Amerikaner. Die Mehrheit der Franzosen aller Alters- und Berufsgruppen, Geschlechter und politischen Richtungen hält den Einfluß der Amerikaner in Frankreich für "zu groß", sei es auf der politischen Ebene (53% gegen 30 %), der militärischen (56%), der wirtschaftlichen (60%) oder kulturellen (61%). Darüber hinaus gaben 63% der Franzosenn an, sich dem amerikanischen Volk nicht "nahe" zu fühlen.

Zunehmende Vorwürfe gegen Nato-Verbündete

Bemerkenswert ist, daß sich in den gesellschaftlichen Oberschichten und unter den Gebildeten die größte Aversion gegen die Amerikanisation der Kultur findet (72%) – paradox dagegen, daß im militärischen Bereich die meisten Anhänger des RPR eine geschmälerte amerikanisch-europäische Allianz befürworten (63%), die wenigsten aber eine unabhängige französische Verteidigung (gerade einmal 2%).

Die Kosovo-Krise bietet die Gelegenheit, sich sowohl über die USA als auch über Deutschland aufzuregen. Letzteres wird beschuldigt, einen Komplott gegen Jugoslawien geschmiedet zu haben. Diese Anklage wird von Philippe de Villiers mit der gleichen Vehemenz vertreten wie von Paul-Marie Coûteaux oder General Pierre-Marie Gallois. Marie-France Garaud gehört der Gruppe derer an, die sich auf einen Gaullismus bar jeder europäischen Perspektive berufen. Die ehemalige Beraterin Georges Pompidous, die Jacques Chirac bei seinen ersten politischen Schritten half und heute Charles Pasqua nahesteht, zierte sich nicht, am 27. März mit Blick auf das Kosovo in Le Monde  zu schreiben: "Jean-Pierre Chevènement hatte recht, den Schluß zu ziehen, daß alles begann, als Deutschland 1991 die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens forderte und durchsetzte, bis dahin integrative Bestandteile Jugoslawiens."


 
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