© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Aushilfstätigkeiten: Das neue 630-Mark-Gesetz schüttet das Kind mit dem Bade aus
Staatliche Arbeitsplatzvernichtung
Folkmar Koenigs

Trotz vielfacher Warnungen und Proteste hat die rot-grüne Koalition das Gesetz zur Neuregelung der sogenannten 630-Mark-Verträge beschlossen sowie eine Änderung des Sozialgesetzbuches, um die "Schein-Selbständigkeit" in die Sozialversicherungspflicht einzubeziehen. Die geringfügigen Nebenbeschäftigungen, die 620- Mark-, jetzt 630-Mark-Jobs, waren bisher in der Sozialversicherung beitragsfrei sowie steuerfrei. Der Arbeitgeber mußte eine Lohnsteuerpauschale von 20 Prozent zahlen. Die Arbeitnehmer erhielten also 620 Mark ohne Abzüge. Um den Mißbrauch der Umwandlung von sozialversicherungspflichtigen Vollzeit- oder Teilzeitarbeitsverhältnissen in 630-Mark-Verträge mit Verlust der Beiträge für die Sozialversicherung und ohne Sozialversicherungsschutz für die Arbeitnehmer zu beseitigen, müssen jetzt die Arbeitgeber in der Regel für den geringfügig Beschäftigten zwölf Prozent Beitrag zur Rentenversicherung und zehn Prozent Beitrag zur Krankenversicherung zahlen oder sogar 50 Prozent der Beiträge zur Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung, wenn der Beschäftigte selbst versicherungspflichtig ist, weil er mehrere 630- Mark-Jobs oder daneben eine Hauptbeschäftigung hat. Zum Ausgleich entfällt für den Arbeitgeber die Lohnsteuerpauschale von 20 Prozent, statt dessen trifft die Steuerpflicht jetzt den Arbeitnehmer. Für die Arbeitnehmer ist der Verdienst nur dann steuerfrei, wenn sie außer den 630 Mark keine weiteren Einkünfte haben, d.h. keine andere Hauptbeschäftigung, keine weiteren 630-Mark-Jobs oder einen positiven Saldo anderer Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung, Gewerbebetrieb, Kapitalanteil der Rente oder Unterhaltszahlungen eines früheren Ehegatten, die dieser als Sonderausgaben absetzt.

Ziel ist die Rückführung in Voll- und Teilzeitverträge

Sehr häufig unterliegt daher der 630- Mark-Verdienst dem Abzug der Lohnsteuer gemäß Tabelle durch den Arbeitgeber, falls der Arbeitgeber die Lohnsteuerpflicht des Arbeitnehmers nicht wie bisher durch eine Pauschale von 20 Prozent abgilt. Anders als bisher entsteht auch eine Beitragspflicht von 50 Prozent dem Arbeitgeber zu allen Zweigen der Sozialversicherung, wenn der Beschäftigte mehrere 630-Mark-Jobs oder daneben eine Hauptbeschäftigung hat. Ergebnis: In einer sehr großen Zahl von Fällen hat der Beschäftigte nicht mehr 630 Mark netto, sondern durch die Beitragspflicht zur Sozialversicherung und Steuerpflicht nur noch einen Nettoverdienst je nach Höhe der anderen Einkünfte von 378 Mark oder noch weniger, also statt 15 Mark pro Stunde nur noch einen Stundenlohn von 9,45 Mark.

Die Ziele des Gesetzes: 1. Keine Umwandlung von Vollzeit- oder Teilzeitverträgen in 630-Mark-Verträge mehr, sondern ihre Rückführung in Vollzeit- oder Teilzeitverträge; 2. zusätzliche Einnahmen für die Renten- und Krankenversicherung zum Ausgleich der Mehrkosten durch die Rücknahme der Einschränkungen der Kohl-Regierung; 3. Verhindern sozial ungesicherter Arbeitsplätze. Diese Ziele werden nicht erreicht. Nach dem Ergebnis einer Umfrage sind bisher überhaupt nur etwa zehn Prozent der 630-Mark-Verträge aus einer Umwandlung von Vollzeit- oder Teilzeitverträgen entstanden; ihre Rückumwandlung ist zweifelhaft. Möglich, aber wenig wahrscheinlich ist die Umwandlung mehrerer 630-Mark-Verträge eines Beschäftigten bei einem Arbeitgeber in einen Teilzeitvertrag. In der Mehrzahl der Fälle wird eine Umwandlung in einen Teilzeitvertrag unterbleiben wegen der Art der Tätigkeit oder der fehlenden Bereitschaft der Beschäftigten, weil sie nur für etwa 15 Stunden pro Woche, oft weniger verfügbar sind. Der Mißbrauch mehrfacher 630-Mark-Verträge eines Beschäftigten hätte sich einfacher durch eine nur einmal ausgestellte Freistellungsbescheinigung verhindern lassen.

Auch die angestrebten zusätzlichen Einnahmen für die Kranken- und Rentenversicherung wären durch weitgehende Verwendung der Einnahmen aus der bisher von Arbeitgebern gezahlten Lohnsteuerpauschale als Zuschuß an die Kranken- und Rentenversicherung einfacher zu erreichen gewesen. Damit wäre der durch die jetzige Regelung verursachte extreme Aufwand an Bürokratie für Arbeitgeber und Staat zu vermeiden gewesen, insbesondere aber die insgesamt zu erwartenden geringeren Gesamteinnahmen, denn es ist kaum anzunehmen, daß die Einnahmen aus der jetzigen Steuerpflicht der Arbeitnehmer die bisherigen Einnahmen des Staates aus der Lohnsteuerpauschale erreichen werden, weil ein Teil der 630-Mark-Jobs jetzt steuerfrei bleibt, andere 630-Mark-Jobs ganz entfallen, weil für die Arbeitnehmer wirtschaftlich sinnlos, durch Schwarzarbeit ersetzt werden oder bei der Freistellungsbescheinigung unrichtige Angaben gemacht werden; denn eine wirksame Kontrolle der Angaben durch die Finanzämter ist kaum möglich.

Viele Beschäftigte werden ihren Nebenjob aufgeben

Der dritte Grund für die Neuregelung, das Verhindern von durch Sozialversicherung nicht gesicherten Arbeitsplätzen, bestand in Wirklichkeit nicht; denn die ganz überwiegende Zahl der Beschäftigten hatte bereits aufgrund ihrer Hauptbeschäftigung oder als mitversicherte Familienangehörige den entsprechenden Versicherungsschutz.

Die drei Ziele der Neuregelung werden also nicht nur verfehlt, sondern die Neuregelung führt zur Vernichtung mehrerer hunderttausend Arbeitsplätze mit entsprechendem Verlust für die bisher Beschäftigten, großen Schwierigkeiten für die Arbeitgeber und Nachteilen für die Verbraucher durch Fortfall oder höhere Preise für Dienstleistungen; denn sehr viele Beschäftigte werden wegen des jetzt zu geringen Netto-Verdienstes ihre Nebentätigkeit aufgeben. Zugleich wird die Schwarzarbeit sehr stark zunehmen, mit der Folge, daß dem Staat statt der angestrebten zusätzlichen Einnahmen für die Kranken- und Rentenversicherung auch noch die Einnahmen aus der bisherigen Lohnsteuerpauschale der Arbeitgeber entgehen.

Zu einer noch größeren Vernichtung von Arbeitsplätzen und Schäden für die Wirtschaft führt die Einbeziehung der sogenannten Schein-Selbständigen in die Versicherungspflicht in allen Zweigen der Sozialversicherung. Um den Mißbrauch zu verhindern, daß Arbeitgeber zwecks Ersparnis der Sozialversicherungsbeiträge bestimmte in der Regel durch eigene Arbeitnehmer ausgeführte Leistungen auf der Form nach rechtlich Selbständige übertragen, wird jetzt vermutet, daß Personen versicherungspflichtige Arbeitnehmer sind, wenn sie in Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit außer Familienangehörigen keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen, regelmäßig nur für einen Auftraggeber tätig sind, weisungsgebunden in dessen Arbeitsorganisation eingegliedert sind und nicht unternehmerisch am Markt auftreten. Für die Vermutung reicht aus, daß nur zwei dieser Merkmale erfüllt sind. Der Arbeitgeber hat solche Personen bei der zuständigen Krankenkasse zwecks Einziehung aller Versicherungsbeiträge anzumelden. Es ist dann Sache des Betroffenen, die Vermutung der Eigenschaft als Arbeitnehmer zu widerlegen und notfalls in einem Prozeß seine Anerkennung als Selbständiger zu erreichen. Bei der schon gegenwärtigen und durch die Neuregelung künftig unermeßlich steigenden Belastung der Gerichte kann das zwischen zwei und fünf Jahre dauern; bis dahin müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Beiträge zahlen.

Die Zahl der durch diese Neuregelung erfaßten Personen läßt sich gegenwärtig nicht übersehen, dürfte aber einer Million nahekommen. Erfaßt werden nicht nur die für das Schaffen neuer Arbeitsplätze dringend gesuchten Existenzgründer, sondern auch die von der öffentlichen Verwaltung beschäftigten Honorarkräfte insbesondere im Bildungsbereich wie Volkshochschulen und Musikschulen und im Sozialbereich, Handel- und Versicherungsvertreter, junge Rechtsanwälte und Steuerberater, Personen in Medienbereich und Datenverarbeitung. Ein erheblicher Teil dieser Personen war und ist fähig und bereit, für Krankheit und Alter selbst ausreichend vorzusorgen, und wird künftig ohne Möglichkeit einer Befreiung in eine für sie wirtschaftlich nachteilige Versicherung gezwungen. Die Entwicklung von Umgehungsstrategien ist bereits in vollem Gange. Entscheidend ist aber, daß einerseits damit vielen jungen Leuten die Gründung eines eigenen Unternehmens unmöglich gemacht wird und andererseits sehr viele Auftraggeber wegen der erhöhten Kosten durch 50 Prozent der Sozialversicherungsbeiträge künftig Aufträge überhaupt nicht mehr oder nur in erheblich geringerem Umfange erteilen werden, insbesondere die öffentliche Verwaltung an die zahlreichen Honorarkräfte. Durch die Neuregelung wird also nicht nur das Entstehen einer großen Zahl neuer Arbeitsplätze verhindert, sondern werden mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens 100.000, wahrscheinlich weit mehr vorhandene Arbeitsplätze vernichtet.

Regierung und Koalitionsparteien geben zwar inzwischen gewisse Risiken als Folge des 630-DM-Gesetzes und des Gesetzes gegen Schein-Selbständigkeit zu, sind aber trotz der bereits eindeutig erkennbaren Folgen zu der dringend notwendigen Nachbesserung nicht bereit, sondern wollen zunächst die Wirkung der beiden Gesetze noch weiter beobachten. Schneller und besser kann man Arbeitsplätze nicht vernichten.

 

Prof. Dr. Folkmar Koenigs, Jahrgang 1916, lehrt Handels- und Wirtschaftsrecht an der Technischen Universität (TU) in Berlin.


 
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