© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Alain Besançon: Le malheur du siècle / Das Unglück des Jahrhunderts
Die Perversion des Guten
Georg Willig

Noch immer betritt ein vermintes Feld, wer es unternimmt, die beiden totalitären Systeme dieses Jahrhunderts miteinander zu vergleichen. Mehr noch setzt er sich der Gefahr aus, auf diesem Feld zur Zielscheibe zu werden, wenn er danach fragt, warum die Verbrechen der einen Diktatur heute dem Vergessen anheimfallen, während die der anderen sich von Tag zu Tag zu vergrößern scheinen.

Der französische Historiker Alain Besançon, Autor einer Reihe renommierter Werke nicht nur über den Kommunismus, tut das mit einer Unbefangenheit, die sich seine deutschen Kollegen nicht leisten könnten. Gerade deshalb wäre die deutsche Übersetzung eines solchen Buches wünschenswert.

Vor dem Vergleich steht das, was beiden Systemen gemeinsam ist: ihr Ziel, eine perfekte Gesellschaft zu schaffen, indem das Böse, das dieser Verwirklichung im Wege steht, ausgerottet wird. Das Instrument der physischen und moralischen Zerstörung war in beiden Systemen die Verfälschung des Guten: das "Dämonische" war an diesen Akten, daß sie im Namen eines angeblichen Guten vollzogen wurden. So zitiert Besançon den "Reichsführer SS" Heinrich Himmler aus einer geheimen Ansprache vom 9. Juni 1942: "Seit Jahrtausenden ist es die Pflicht der nordischen Rasse, die Erde zu beherrschen und ihr Glück und Zivilisation zu bringen." Dieses Glück bestehe darin, die natürliche Ordnung wiederherzustellen, die durch die Geschichte zerstört wurde: durch das Christentum, die Demokratie, die Herrschaft des Goldes, den Bolschewismus, die Juden.

Der Kommunismus habe zu einer ausgedehnteren und tieferen moralischen Zerstörung geführt, der die gesamte Bevölkerung über einen viel längeren Zeitraum unterworfen wurde. Er war weit über Rußland hinaus wirksam und scheint auch heute noch nicht als Idee erloschen zu sein. Besançon zitiert den Leitartikler der kommunistischen L’Humanité, der noch in diesen Tagen schrieb: "85 Millionen Tote verdunkeln in keiner Weise das kommunistische Ideal. Sie stellen nur eine beklagenswerte Abweichung dar."

Besançon erinnert daran, daß der Kommunismus groß geworden ist durch den massiven Zustrom von Abtrünnigen des wahren Christentums. "Es ist nicht sicher, daß diese Abtrünnigkeit, die Komplizenschaft in verschiedenen Graden, als schuldig empfunden wird. Sie werden für läßliche Abweichungen gehalten, oft lobenswert, weil ausgehend von hochherzigen Intentionen." Im Geiste vieler Gläubigen und im Klerus seien die kommunistischen Ideen noch lebendig, wenn auch vermischt. "Heute noch spricht man von einem ‘dritten Weg’ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Das bedeutet, immer noch nicht eingesehen zu haben, daß man der Ideologie von der Vision einer zweigeteilten Welt folgt, wenn man sie dem Konzept des ‘Kapitalismus’ unterwirft." Diese Vorstellungen seien auch ein Grund für das Vergessen der roten Diktatur.

Besançon verweist immer wieder auf die religiösen und verfälschten christlichen Ursprünge des Totalitarismus, auf die perversen Imitationen des Judaismus und des Christentums. "Nichts markiert mehr den biblischen Zug im Nazismus wie im Kommunismus als der gemeinsame Wille, die Welt zu retten, wobei beide in der Ausführung dieses Willens jeden biblischen Zug auslöschen". So ist das marxistisch-leninistische Heil vergleichbar mit dem in der Bibel prophezeiten: Die Ankunft einer von allen Übeln befreiten Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit, "wo alle Enttäuschungen, die mit der Ehe, der Familie, dem Besitz, dem Recht und der Armut verbunden sind, abgeschafft sein werden".

Der "neue Mensch" ein Produkt des Sozialismus, wird seine Existenz jedoch nicht der göttlichen Gnade, wie bei den Christen, sondern politischen Mitteln, auf "wissenschaftlicher Basis", verdanken, die bis zur Auslöschung der bürgerlichen Gesellschaft reichen. Ist auch die perverse Idee, das deutsche Volk dazu zu bringen, dem Willen der Rasse, des Volkes, inkarniert in der Person des Führers, bis zur letzten Konsequenz zu folgen, mit dem Untergang des Dritten Reiches erloschen, so kann man das von der kommunistischen Idee nicht sagen.

Deutschland wurde, wie Besançon in Erinnerung ruft, "einer gigantischen Gewissensprüfung unterworfen und aufgefordert, das zu verneinen, was in seiner Geschichte und in seinen Gedanken das Unheil vorbereitet hat. Die Art, in der dieses ruinierte, dezimierte, geteilte und entehrte Volk der Verzweiflung widerstanden und sich wieder an die Arbeit gemacht hat, indem es seine Strafe anerkannte, ist bewundernswert." Dagegen stand und steht es in der Mehrzahl der Länder, die den Kommunismus als herrschende Doktrin hinter sich gelassen haben, nicht zur Debatte, die Schuldigen zu bestrafen. Überall konnten die Kommunisten sich wieder am politischen Spiel beteiligen. Der schnelle Aufstieg Deutschlands nach 1945 und die lange Stagnation Rußlands nach 1991 sind nach Besançon nicht ohne Beziehung zu der Selbsterniedrigung des einen und dem Hochmut des anderen.

Über die Einzigartigkeit der Judenvernichtung durch die Nazis gibt es für Besançon keinen Zweifel. Ausführlich und tiefgründig setzt er sich mit dieser Katastrophe auseinander. Er begründet, warum diese "Singularität" nicht in der Einmaligkeit der technischen Vernichtung bestand, sondern darin, daß es mit dem von Gott auserwählten biblischen Volk geschah. Diese Legitimität des jüdischen Volkes ist auch immer von der christlichen Welt anerkannt worden. Diese religionsphilosophischen Fragen werden im letzten Kapitel seines Buches ausführlich behandelt. Alain Besançon hat ein bedeutendes Buch geschrieben.

 

Alain Besançon: Le malheur du siècle. Sur le communisme, le nazisme et l’unicité de la shoah. Fayard, Paris 1998, 163 Seiten, 43 Mark


 
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