© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Jahrhundert der Vertreibung (III): In Prag und Warschau wurde die "Transferierung" der Deutschen vor 1938 geplant
Pläne zur Lösung der Nationalitätenfrage
Alfred Schickel

Seit Jahrzehnten hatten Politiker und Journalisten das Wort "Vertreibung" nicht mehr so oft im Mund wie in diesen Tagen. Wer aber geglaubt haben sollte, das wäre eine Folge der stetigen Mahnung, nicht zu vergessen und vergegenwärtige das Schicksal der Millionen deutscher Heimatvertriebener, sieht sich gründlich getäuscht.

Die heute gefühls- und lautstark als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" angeprangerten Vertreibungen vollzogen sich nach Meinung der amtierenden Regierungsoberen nicht vor 54 Jahren jenseits von Oder und Böhmerwald. Vielhmehr handelt es sich um die aktuellen "ethnischen Säuberungen" der Serben im Kosovo. Ihre Verwerflichkeit liefert in den Augen derselben Vertreibungsgegner zugleich die moralische Berechtigung für das wochenlange Bombardement auf das Vertreiberland.

Und zwar in Allianz mit Staaten, deren politische Führer 1945 die größte "ethnische Säuberung" dieses Jahrhunderts in Potsdam beschlossen und von ihren Alliierten hatten durchführen lassen. Die Achtung der Menschenrechte spielte damals ebensowenig eine Rolle wie der Respekt vor der menschlichen Würde. Die Toten von Aussig, Brünn und Lamsdorf gaben keine Schlagzeilen her. Für die meisten heutigen Zeitgenossen scheinen sie ohnehin nie existiert zu haben. Und wenn sie von überlebenden Zeitzeugen daran erinnert werden, offenbart sich nicht selten ein Vorurteil, das an Peinlichkeit und Unwissen kaum zu überbieten ist. Da werden die vertriebenen Ost- und Sudetendeutschen mit der Begründung von den Kosovo-Albanern unterschieden, sie seien als Deutsche am Ausbruch des Krieges schuldig gewesen und hätten sich mithin ihr späteres Vertreibungsschicksal selber zuzuschreiben. Auch seien unter den deutschen Vertriebenen "NS-Täter" gewesen, die kein Recht auf Mitleid hätten. Vor dem Hintergrund einer solchen Vergangenheit sei es tunlich, die Vertreibung der Deutschen "zu vergessen", zumal man sich mit den östlichen Nachbarn mittlerweile "ausgesöhnt" habe und sich die beiderseitigen Beziehungen nicht "durch die Vergangenheit belasten" lassen wolle.

Um mit dem von Zeitgeistformeln erdrückten menschlichen Mitgefühl mit dem Schicksal der vertriebenen Landsleute nicht auch noch die historische Wahrheit zu vertreiben, erscheinen einige Tatsachenfeststellungen erforderlich. Erstens: Die Ausweisung der Deutschen aus dem Sudetenland und den Ostprovinzen des Deutschen Reiches erfolgte nicht als Vergeltung für vorher begangenes NS-Unrecht, sondern war bereits vorher von der Prager und der Warschauer Regierung als "Lösung der Nationalitätenfrage" geplant worden. Das geht aus französischen und britischen Dokumenten der Jahre 1938 und 1939 hervor.

So schlug ausweislich eines französischen Diplomatenberichtes vom 17. September 1938 der damalige tschechoslowakische Staatspräsident Eduard Benesch neben der Abtretung sudetendeutscher Siedlungsgebiete noch die "Ortsverlagerung" mehrerer hunderttausend Deutschböhmen vor, um das seit Gründung der Tschechoslowakei schwelende Nationaltätenproblem zu lösen. Eine "ethnische Säuberung" noch vor ähnlichen Aktionen der Berliner Machthaber in Polen und im Baltikum. Und zugleich ein zweiter Versuch nationaltschechischer Politiker, die 1918/ 19 zur innenpolitischen Zielsetzung erhobene Entgermanisierung mit internationaler Hilfe durchzusetzen.

Das vierseitige Abkommen von München vereitelte dann im Oktober 1938 dieses Vorhaben und brachte den Sudetendeutschen mit 20jähriger Verspätung die Erfüllung des ihnen 1918 gegebenen Vesprechens auf Selbstbestimmungsrecht; ein Vorgang, den viele – von der Londoner Times bis zu den deutschen Kirchenführern – gleichermaßen als "Korrektur eines historischen Fehlers" und "Akt ausgleichender Gerechtigkeit" begrüßten. Erst die Nachkriegsgeschichtsschreibung deutete in der Rückschau die geschehnisse ausschließlich als "Vergewaltigung der Tschechoslowakei" und "Kapitulation der demokratischen Staaten vor autoritären Regime" und verschwieg mit dieser Qualifikation die ganze leidvolle Vorgeschichte des Münchner Abkommens. Diese "Geschichtsverkürzung" setzte sich durch und schlug sich auch in den "geschichtlichen Aussagen" der deutsch-tschechischen "Versöhnungserklärung" von 1997/98 nieder. Und das angesichts der klaren Bezugnahmen der britisch-französisch-italienischen Vertragspartner von München auf die Okkupation des Sudetenlandes durch die Tschechen im Dezember 1918. In ihnen werden die Tschechen aufgefordert, die nach dem Ersten Weltkrieg eigenmächtig besetzten deutschen Siedlungsgebiete bis spätestens "zum 10. Oktober 1938 zu räumen". Die mittlerweile im Sudetenland ansässig gewordenen Tschechen hatten nach den Bestimmungen des Münchner Abkommens sechs Monate Zeit, ihren Wohnsitz zu verlegen oder für die deutsche Staatsangehörigkeit zu optieren.

Eine "Vertreibung der Tschechen", wie sie heute von interessierter Seite behauptet und von passionierten deutschen "Volkspädagogen" blindlings nachgeredet wird, gab es nachweislich nicht.

Ebensowenig hatten, zweitens, die Polen für ihre Vertreibungen nach dem Krieg einen "deutschen Präzedenzfall"; denn ihre ersten einschlägigen Ausweisungspläne standen bereits im Frühjahr 1939 zur Debatte. Sie sind in einem Reisebericht zweier britischer Sonderbotschafter vom 13. Juni 1939 überliefert. Darin ist vom Wunsch Warschaus die Rede, nach einem siegreich bestandenen Krieg gegen Deutschland Ostpreußen zu annektieren, um einen längeren Küstenstreifen an der Ostsee zu haben und die bisherige "Korridor-Regelung" abzulösen. Um die ohnehin schon bestehende deutsche Minderheit nicht noch durch die Einverleibung Ostpreußens zu erhöhen, gedachte man dessen deutsche Bevölkerung ins Reich zu "transferieren".

Wörtlich erklärten die polnischen Regierungsvertreter ihren britischen Besuchern, daß "die Bevölkerung Ostpreußens sowieso im Abnehmen begriffen und vieles von dem Gebiet in Wirklichkeit polnisch" sei und "daß man jedenfalls Umsiedlungen vornehmen" könne, weil "Polen als junger und rasch wachsender Staat eine seiner Bedeutung angemessene Küstenlinie" haben müsse. Dieses Vorhaben stellte der "Vizedirektor der Abteilung Ost im (polnischen) Außenministerium als polnischen Plan" vor.

Dabei handelte es sich wiederum um eine geplante "ethnische Säuberung" ohne deutsches "Vorbild" oder gerechtfertigte Vergeltung für vorher von den Deutschen begangene Untaten. Vielmehr war es ein weiteres Beispiel für nationalistische Intoleranz, die in der Zwischenkriegszeit 1919–1939 in Europa verschiedenenorts anzutreffen war und beispielsweise auch in Frankreich politisch mächtige Vertreter hatte.

Ihrem Betreiben hatten 1919/20 nach Ende des Ersten Weltkriegs und Rückgliederung Elsaß-Lothringens an Frankreich zahlreiche Deutsche ihre Ausweisung aus der Heimat zuzuschreiben. Die bekannte deutsch-jüdische Schriftstellerin Charlotte Elk Zernik berichtet in einem "persönlichen Dokument" aus dem Erleben ihrer betroffenen Familie: "Elsaß-Lothringen wurde Frankreich zugesprochen, die Franzosen zogen ein und wiesen kurzerhand alle dort seit Jahrzehnten ansässigen Deutschen aus, beschlagnahmten ihren Besitz, ohne die heimatlos geworenen Menschen jemals dafür zu entschädigen... . Diese Vorgänge zählen zu den vielen ungesühnten Ungerechtigkeiten der Geschichte, bei denen Menschen, die sozusagen zwischen zwei Ländern geboren sind, zum Pfand kriegerischer und politischer Konflikte gemacht wurden und werden".

Die heute in New York lebende Zeitzeugin, deren Eltern in den dreißiger Jahren die Verfolgung durch die Nationalsozialisten durchmachen mußten, sieht die vertriebenen Ost- und Sudetendeutschen in der Leid-Nachfolge der Betroffenen von 1919 und bekundete wiederholt ihr solidarisches Mitgefühl mit den deutschen Schicksalsgenossen von 1945/46. Ihr ist offenbar der Gedanke fremd, eine mögliche Einzeltäterschaft unter den Vetriebenen zu kollektivieren und damit die Deutschen-Vertreibungen zu "entschuldigen", wie sich manche amtierende Politiker und vorlaute Meinungsführer hierzulande den Anschein geben.

Der Blick in die Geschichte unseres Jahrhunderts macht deutlich, daß Menschenvertreibungen nicht die Erfindung deutscher Gewaltpolitik sind, sondern fast ausschließlich Ausfluß menschenrechtsverletzenden Nationalismus.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen