© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/99 14. Mai 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Gelungene Demokratie
Karl Heinzen

Zehn Jahre nach der friedlichen Revolution gegen das SED-Regime fehlt es den Ostdeutschen immer noch an demokratischem Bewußtsein, weiß Jutta Limbach, die oberste Hüterin des Grundgesetzes, zu beklagen – sie muß einen Mangel an Verfassungspatriotismus von Amtes wegen natürlich persönlich nehmen. Daher mag sie auch die Folgen, die das für eine sorgenfreie Zukunft mit sich bringt, etwas überzeichnet haben. Denn auch wenn jeder weiß, wohin es führen kann, wenn dem Bekenntnis zur deutschen Kultur der Vorzug vor einem solchen zum Grundgesetz gegeben wird – Buchenwald liegt schließlich nicht umsonst nahe Weimar: Jede deutsche Demokratie wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, hätte sie sich auf die Gesinnung oder den Willen ihrer Bürger verlassen. Für das Gelingen einer Demokratie ist es nämlich vor allem unerläßlich, daß sie als alternativlos empfunden wird – sonst drohte jede Wahl aufs Neue die Systemfrage aufzuwerfen. Die Deutschen können sich in dieser Hinsicht nicht über ihre Geschichte beschweren. Ihre überzeugende Entmachtung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bot ihnen die Chance, Wege zu beschreiten, auf die sie aus eigenem Antrieb vermutlich niemals gelangt wären.

Die neuen Eliten der früheren Bundesrepublik stießen auf noch weniger Widerstand als ihre unmittelbaren Vorgänger, es gelang ihnen daher, ihre Verfassungsgrundsätze totaler und radikaler durchzusetzen, als man es sich überhaupt je vorstellen konnte. Die Ohnmacht der Menschen allein hätte aber zur Errichtung einer stabilen Demokratie kaum ausgereicht: Es war schon eine gehörige Portion obrigkeitsstaatlichen Denkens nötig, um sich auf das Experiment "der da oben" zulassen. So sehr wir uns an dem erfreuen, was diese Menschen damals auf den Weg brachten, so wenig dürfen wir darüber schweigen, welche Last unserem Gemeinwesen damit aufgebürdet wurde. Durch die Wahrnehmung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben die Menschen des Nachkriegs jenem Staat die sonst fehlende Legitimation verschafft, der sich eigentlich gegen all das richten wollte, was sie verkörperten. Diese Korrumpierung ist zwar wiederholt für beendet erklärt worden, zuletzt nach dem jüngsten Regierungswechsel, aber wir haben allen Grund, daran zu zweifeln, ob wir uns wirklich so billig aus unserer Verantwortung stehlen dürfen.

In dieser Bewußtseinslage sind die Ostdeutschen eine unwillkommene Ablenkung von der Gewissensfreude, die das Nachdenken über die eigene Vergangenheit gewährt. Es ist also keine Selbstüberschätzung, wenn Westdeutsche wie Jutta Limbach auf ihre neuen Mitbürger von 1990 herabblicken, sondern ein Gebot sittlicher Verantwortung, sie freundlich, aber bestimmt daran zu erinnern, wer hier wen wozu wiedervereinigt hat. Die oberste Verfassungsrichterin ist dazu wie niemand anders prädestiniert, da sie keinem Menschen verpflichtet ist.


 
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