© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/99 14. Mai 1999


Krieg in Jugoslawien: Luftangriffe erinnern an Wirtshausprügelei
Chirurgische Eingriffe
Andreas Wild

Im Krieg passiert eine Menge "aus Versehen", viele Leute kriegen Bomben auf den Hut und müssen den Löffel abgeben, obwohl das niemand gewollt hat und es alle von Herzen bedauern. Die zur Zeit so häufig beschworene "chirurgische" Kriegsführung, bei der lediglich militärische Ziele angegriffen werden, und zwar angeblich mit einer solchen Präzision, daß dabei fakisch keine "Unbeteiligten" zu Schaden kommen, hat sich als Illusion erwiesen. Je chirurgischer der Eingriff, um so größer die "Kollateralschäden".

Um das zu verifizieren, hätte es der Luftaktion der Nato gegen Jugoslawien an sich gar nicht bedurft. Jede Wirtshausschlägerei, jeder Dick-und-Doof-Film liefert hinreichend Anschauungsmaterial, verläuft nach dem Grundsatz der Einbeziehung Unbeteiligter. Einer holt gewaltig zum Tortenwurf aus, schießt, aber sein Zielobjekt duckt blitzschnell ab, und die Torte trifft voll ins Gesicht eines bisher friedlich Danebensitzenden, der sich nun seinerseits empört ins Geschehen einmischt.

Außerdem: Was sind "militärische Ziele"? An einer Tankstelle kann sowohl ein Militärjeep als auch ein Zivil-Pkw tanken, über eine Brücke können sowohl Panzer als auch Busse mit Schulkindern fahren, ein Wasserreservoir versorgt sowohl Militär- als auch Zivilpersonen. Wenn die "wirklichen" Militärobjekte, Raketenstellungen, Kasernen, Befehlsstände, knapp werden, weil sie bereits alle zerstört oder unerreichbar sind, müssen die Chirurgen ihre Kunst wohl oder übel auf "Mischobjekte" ausdehnen.

Auch dafür liefert die Wirtshausschlägerei so manches Beispiel. Wenn die Flaschen aus den Regalen sämtlich zerschlagen sind, kommen die Regale selbst dran, werden im Nu zu Kleinholz verarbeitet, nicht anders als das übrige Mobiliar, die Stühle, welche schlaggriffige Stuhlbeine liefern, die Tische, welche als Schilde gegen feindliche Wurfgeschosse dienen. Am Ende ist die ganze Wirtsstube ein einziges Trümmerfeld, und der Streit geht los, wer das alles bezahlen soll.

Es steht also mit der "chirugischen Kriegsführung" wie mit allen solchen Strategien: Sie verwechselt den Plan mit der Wirklichkeit, die "Essenz" mit der "Existenz", das Denken mit dem Sein. Dies ist ein uraltes abendländliches Übel. Schon die europäischen Scholastiker des Mittelalters fröhnten ihm, als sie darangingen, die Existenz Gottes zu "beweisen". Weil es leichtfiel, das höchste Wesen, das ens perfectissimum, zu denken, mußte es "notwendig" auch existieren. Denn ein perfektes Wesen verfügte natürlich auch und vor allem über die Existenz, das gehörte zu seiner Perfektion einfach dazu. Die Möglichkeit, Gott zu denken, genügte folglich als Beweis seiner Existenz.

Den Erfindern des neuzeitlichen Rationalismus, allen voran René Descartes, kam diese Art von Gottesbeweis sehr gelegen. Ihr großes Paradigma war die Mathematik, die exakte Berechenbarkeit von allem und jedem. Mit derselben Denknotwendigkeit, mit der aus der Definition des Dreiecks die geometrischen Sätze über dieses Dreieck folgen, folgte, so glaubte Descartes, aus der Berechenbarkeit eines Sachverhaltes seine grundsätzliche Identität mit der mathematischen Formel. Die Welt war in jeder Hinsicht "machbar", man mußte sie nur hinreichend mathematisieren, mußte nur ein exaktes Modell von ihr anfertigen.

Im Marxismus, im utopischen Wahn, nach streng wissenschaftlichen Formeln eine "perfekte" Welt konstruieren zu können, erreichte diese Denkweise ihren Höhepunkt. Und im Desaster dieser Utopie konnte jedermann sehen, daß eine solche Denkweise zu bösen Häusern führen muß, daß die Existenz, das lebendige Sein, nie und nimmer in der mathematischen Formel aufgeht, daß jeder, der die Identität mit chirurgischer Präzision gewaltsam herstellen will, ein gefährlicher Irrer ist.

Tatsächlich ist man ja seit dem Untergang des real konstruierten Sozialismus allerorten sehr viel vorsichtiger geworden beim wissenschaftlichen Rektifizieren sozialer Wirklichkeit. Utopische Sozialentwürfe "auf wissenschaftlicher Grundlage" gibt es heute faktisch nicht mehr. Was es – ironische, unheimliche Pointe – dafür aber gibt, und zwar immer üppiger gibt, das ist das Zerstörenwollen "auf wissenschaftlicher Grundlage", die Vorstellung, ein mächtiges kriegerisches Zerstörungswerk "chirurgisch", mit vorher genau berechneter und im Labor getesteter Wirkung, zur Durchführung bringen zu können.

Mathematisch rein, so hat man gelernt, läßt sich kein lebender Organismus konstruieren oder organisieren; wer so etwas versucht, betätigt sich letzten-endes als Zerstörer. Die reine Berechnung, so die Fortsetzung des Gedankengangs, ist offenbar von Natur aus ein Zerstörer – und eben deshalb glorios einsetzbar bei jeglichem Zerstörungswerk, vor allem im Krieg. Daß sich die Kriegstechnik seit dem Ende des Kalten Krieges in schier unglaublicher Weise weiterentwickelt hat, daß sie mittlerweile ein ganz eigenes Pandämonium aus Elektronik und anderer "High Tech" bildet, lag in der Logik des rationalistischen Denkstils.

Was gegenwärtig in Jugoslawien abläuft, ist gewissermaßen die Probe der Wirklichkeit aufs logische Exempel. Nicht nur die neuesten High-Tech-Geräte werden ausprobiert, unter realen Bedingungen getestet, sondern die ganze spätmoderne Hoffnung der Utopie-Logiker. Wenn man schon kein Utopia "chirurgisch exakt" aufbauen kann, kann man dann nicht wenigstens ein Gemeinwesen "chirurgisch exakt" zerstören? Oder geht auch diese Hoffnung baden, kommt dabei nichts weiter als eine wüste Wirtshauskeilerei heraus und am Ende ein völlig unchirurgisches Trümmerfeld?

Wie es aussieht, ist das letztere der Fall. Bereits jetzt sind zahlreiche "bedauerliche Versehen" unterlaufen, zuwenig Professor Sauerbruch, zuviel Doktor Eisenbart. Und vom Bezahlen ist überhaupt noch nicht die Rede gewesen.


 
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