© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/99 21. Mai 1999


Zur Debatte über Flüchtlingsaufnahme
Erste Zuflucht
Heinrich Lummer

Immer wieder, wenn es irgendwo in der Welt Kriege und Krisen gab, vor denen die Menschen flüchteten, tauchten in Deutschland humane Geister auf, die sagten, man müsse die Menschen aufnehmen, bis es wieder Ruhe gebe. Sie behaupteten frisch und frei, schließlich sei es der sehnlichste Wunsch dieser Menschen, möglichst bald in die Heimat zurückzukehren. So hätten wir ja nur für kurze Zeit diese Last zu tragen.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die unterstellte Heimatliebe der Menschen ist in der Regel nicht so groß, daß sie allesamt möglichst schnell nach Hause wollen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Sie wollen dann alle möglichst lange in Deutschland bleiben, und gehen tun sie in der Regel nur, wenn man ihnen die Heimkehr versilbert.

Man zahlt kräftige Rückkehrhilfen, die manchmal groteske Züge annehmen. Auch bedarf es eines hohen bürokratischen Aufwandes, die Rückkehr zu organisieren. Bezogen auf die Bosnien-Flüchtlinge wurde von den Länderinnenministern 1996 ein Rückkehrplan entwickelt. Das Flüchtlingswerk UNHCR in Genf setzte eine Arbeitsgruppe ein. In den Botschaften in Sarajewo wurden Rückkehrattachés eingesetzt.

Natürlich wurde der Zusammenhang zwischen Rückkehr und Wiederaufbau heftig diskutiert. Ob es denn erlaubt sei, jemanden zurückzuschicken, ehe sein Haus wieder aufgebaut wurde. Auch mußten Rückübernahmeabkommen geschlossen werden. Daneben ging es nicht ohne Transitabkommen. Und natürlich wurde gezahlt. Ohne ein Informationszentrum für die Repatriierung in Sarajewo ging es wohl auch nicht. Trotz aller dieser Bemühungen sind bis 1998 insgesamt nur etwa 260.000 Flüchtlinge, das entspricht 45 %, nach Bosnien zurückgekehrt.

Für die innenpolitische Diskussion wird dann zur Begründung gesagt, die Rückkehrhilfen seien immer noch billiger als das Verbleiben in Deutschland. So wurde es fast schon die Regel, daß Deutschland erst den Aufenthalt hier und dann zusätzlich die Heimkehr finanzierte. Es mutet pervers an, wenn bosnische Flüchtlinge in Deutschland alimentiert werden und deutsche Aufbauhelfer in Bosnien ihre Häuser und die Infrastruktur des Landes wieder aufbauen. Daraus sollte man lernen, keine Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland zu bringen, sondern die Versorgung in der Region sicherzustellen. Die Vesuchung des deutschen Wohlstandes erscheint so groß, daß möglichst viele am deutschen Wesen genesen wollen, indem sie ganz einfach in Deutschland bleiben. Ganz gewiß aus diesem Grunde hat Frankreich sich geweigert, Flüchtlinge aus dem Kosovo aufzunehmen. Unsere Regierung hat sich wieder einmal dafür entschieden, 10.000 aufzunehmen. Sicher werden es mehr werden. Und sicher wird der alte Mechanismus greifen. Wer hier ist, will hier bleiben und geht nur mit goldenem Handschlag.

Ende April hatte die Europäische Union 10.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo aufgenommen. Deutschland war mit 10.000 dabei. Die Agentur Reuters verbreitete, das Innenministerium in Bonn wollte sich für die Aufnahme weiterer Kosovo-Flüchtlinge einsetzen. Das Haus selbst erklärte, "vorerst" solle es bei 10.000 bleiben. Anfang Mai war diese Haltung nach widersprüchlichen öffentlichen Äußerungen des Innenministeriums obsolet. Man war nun bereit, 20.000 aufzunehmen. Zwar gab es in den unionsgeführten Bundesländern Widerstand, aber der wird nicht ausreichen, die Erhöhung zu verhindern. Am Ende werden es gewiß auch mehr als 20.000 sein. Schließlich gibt es noch Schlepper und verschlungene Wege.

Das Verhalten der anderen EU-Länder ist von Zurückhaltung gekennzeichnet. Dafür gibt s auch gute Gründe. Die Bundesregierung mahnt gegenüber den EU-Partnern solidarisches Verhalten im Sinne einer Lastenverteilung. Sie hätte besser daran getan, auf eine Aufnahme in Deutschland zu verzichten. Einerseits hatte Deutschland eine überaus große Zahl der Bosnien-Flüchtlinge großzügig aufgenommen, andererseits sollte die Erfahrung mit Rückführungsproblemen zur Vorsicht mahnen. Mehr als ein halbes Jahr vor dem Debakel im Kosovo hatte ich die Bunderegierung mittels einer Anfrage aufgefordert, ihren Anspruch auf Lastenverteilung geltend zu machen. Die Begründung dafür ist einfach. Die Verträge von Maastricht und Amsterdam sehen in diesen Problemen künftig zu lösende Gemeinschaftsaufgaben. Die Lastenverteilung kann in einer Teilung der Kosten oder einer Verteilung der Flüchtlinge nach einem bestimmten Schlüssel liegen. Die Bundesregierung war und ist gegenüber dem deutschen Steuerzahler verpflichtet, alle Möglichkeiten unverzüglich und entschlossen anzugehen.

Schließlich hatte der Europäische Rat 1995 in Madrid unter dem Stichwort "Einwanderung und Asyl" u. a. festgestellt: "Er (der Rat) stellt ferner mit Befriedigung fest, daß die Entschließung über die Lastenverteilung, bei Aufnahme von Vertriebenen sowie der Beschluß über ein Warnsystem und Dringlichkeitsverfahren für diese Lastenverteilung verabschiedet worden sind".

Im September 1998 konnte man wissen, was kommen würde. Deshalb stellte ich am 2. September 1998 folgende Frage: Bemüht sich die Bundesregierung im Rahmen der EU um eine angemessene Lastenverteilung für den Fall, daß es zu größeren Flüchtlingsströmen aus dem Kosovo in die Länder der EU kommt, und wie begründet sie ihre Haltung? Die Antwort war lapidar. Immerhin hatte die Bundesregierung versucht, das Warn- und Dringlichkeitsverfahren in Gang zu setzen, um "eine zum Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina analoge Situation zu vermeiden".

Von Politikern verlangt man zu Recht, die Dinge vorauszusehen. Was im Kosovo geschah, war vorhersehbar. Schon damals mußten also die Probleme der Lastenverteilung geregelt werden. Die Vertragsgrundlagen waren da. Was aber geschah? Wieder mal nichts Nennenswertes. Die anderen handeln wieder einmal im nationalen Interesse. Nur unsere Regierung glaubt, ihre Bürger besonders belasten zu dürfen.

Die massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen hat überdies die ungewollte Nebenwirkung, daß auf diese Weise zu ethnischen Säuberungen ermuntert wird, weil sie erfolgreich sind. Warum kann Deutschland nicht genau wie Frankreich mit diesem Hinweis die Betreuung der Kosovo-Flüchtlinge in der Region unterstützen und die weitere Aufnahme in Deutschland ablehnen? Auch wäre es ganz und gar normal, wenn Deutschland jetzt auf seine überdurchschnittliche Aufnahmebereitschaft bezüglich der Bosniaken verweist und von den EU-Partnern eine stärkere Lastenübernahme verlangt. Leider fehlen uns Regierungen, die unsere Interessen angemessen wahrnehmen.

Wie formulierte Bismarck 1876 treffend vor dem Preußischen Landtag: "Die Neigung, sich für fremde Nationalitäten und Nationalbestrebungen zu begeistern, auch dann, wenn dieselben nur auf Kosten des eigenen Vaterlandes verwirklicht werden können, ist eine politische Krankheit, deren geographische Verbreitung sich leider auf Deutschland beschränkt".

 

Heinrich Lummer war 1981 von bis 1986 Innensenator und Bürgermeister von Berlin, von 1987 bis 1998 Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Auswärtigen Ausschuß.


 
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