© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/99 04. Juni 1999


CD: Pop
Arbeitsmoral
Peter Boßdorf

Alles kann romantisiert werden, vor allem Amerika. Jedes Urinal weiß dort um viele Geschichten, Schicksale, die sich vor ihm entblößen. Tom Waits bringt sie alle zum Sprechen. Wo kommst Du her, Fremder? Was schert es Dich, daß Deine Frau sich von immer demselben Pizzaboten nicht nur die Pizza bringen läßt? Du solltest das mit dem Saufen nicht übertreiben, aber was erzähle ich Dir! Es gibt ja so viele seltsame Typen!

Bei so vielen Menschen, die den nordamerikanischen Halbkontinent bevölkern, gibt es in der Tat immer eine Menge zu erzählen. Tom Waits zimmert daraus Songs, die von den großen Gefühlen in den ganz kleinen Verhältnissen sprechen, augenzwinkernd, so, daß man sie durchschaut, aber nicht bezweifelt. Das ist gut für die Menschenwürde und gut für den Umsatz: Man identifiziert sich als Konsument musikalischer Lebensuntermalung zwar gerne mit Gescheiterten, weil das dem eigenen geradlinigen Dasein ein Schicksalspotential vermittelt, das ihm sonst abgeht. Man möchte daber aber eine gewisse seelische Größe, die man sich selber zuerkennt, auch im anderen nicht missen – und möge seine Heimat auch die Gosse sein. Der als Freak aufgewertete Lumpenproletarier und der Konformist sind versöhnt, alles ist in Butter, auch wenn es im Argen liegt. Der Kapitalismus mag hart und ungerecht sein, er kann den Einzelnen aber nicht seines inneren Wertes berauben. Dies ist die Mentalität, auf der sich Dienstleistungsgesellschaften errichten lassen. Tom Waits ist der Soundtrack für das amerikanische Jobwunder.

Seine neue CD "Mule Variations" (Epitaph) läßt dies nachempfinden, sie ist eine Reprise, die nichts Neues zu bieten weiß. Daraus spricht nach sechs Jahren Pause ein beachtlicher Sinn für Kontinuität. Tom Waits bevorzugt unverändert zwei Posen: die des unglaubwürdigen Jahrmarktschreiers und die des versoffenen Spelunkenpianisten mit routiniertem Libidokummer. Mehr Seiten hat seine Medaille nicht. In Deutschland kommt so etwas bei Menschen an, die zum Beispiel in den stumpfsinnigen Kitsch von Jim Jarmusch großes, mythologisches Kino hineininterpretieren oder die den Ostküstenheimatdichter Paul Auster für ein literarisches Schwergewicht halten. Solche Ergriffenheitsvortäuschungen können toleriert werden, wenn mit ihnen eine sexuelle Absicht verbunden ist, wenn sie in Balzsituationen die eigene Attraktivität steigern sollen. Wie soll das aber mit Tom Waits funktionieren?

Eine Hebung der Arbeitsmoral könnte auch der ostdeutschen Band Subway To Sally nachgesagt werden: Ihr Gitarrist und Hauptverantwortlicher für Komposition Ingo Hampf hat schließlich in einem Szeneblatt kürzlich die Hoffnung geäußert, daß der Schlosserlehrling morgens auf dem Weg zur Arbeit das neue Album "Hochzeit" (BMG Ariola) hört und gut gelaunt in den Tag geht.

Subway To Sally ist dabei eine der bekannteren Adressen, die den aufgekommenen Bedarf nach einer Musik stillen, die als "mittelalterlich" anmutend angesehen wird. Der besondere Reiz der Band liegt zum einen darin, daß sie sich an Vorbildern alter Musik orientiert, sie aber nicht covert. Zum anderen vesteht sie es, die Distanz von diesen Anregungen so weit zu treiben, daß die Symbiose mit Metal-Klängen nicht aufgezwungen wirkt. Die Texte und ihre Intonation überspannen den Bogen nicht. Die zufällige Nähe zum Folk-Rock der 70er ist deutlicher als der zwangsläufige schwarze Rahmen der 90er.


 
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