© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/99 04. Juni 1999


Grüne Wendehälse
von Jutta Winckler-Volz

m Ende einer exzellenten zweistündigen Abrechnung mit der bundesdeutschen Linken im spärlich besetzten Bonner Hörsaal rief der greise Leo Kofler temperamentvoll aus: "Seit es diese Grünen, diese Friedensapostel und Ignoranten des Klassenkampfs gibt, wird die Linke von Tag zu Tag dümmer. Diese dumme Linke kennt keine theoretischen Probleme mehr! Und deshalb wird sie binnen kurzem ihren Namen nicht mehr verdienen!" Dies ereignete sich zu Beginn der 80er Jahre, zeitgleich feierte die "Friedensbewegung" auf der "Hofgartenwiese", dem Campus der hauptstädtischen Alma Mater, ihre gefühlige Liturgie. Längst ist der schon zu Lebzeiten legendäre Altkommunist und Wiener Barrikadenkämpfer Kofler ins Ewige Politbüro abberufen worden, sein Befund aber hat sich als zutreffend erwiesen. Und dies von Jahr zu Jahr mehr, kürte die "Gartenlaube" bundesdeutschen Andersseins, die Berliner taz, die vormals bewegungsförmige Partei des Joschka Fischer doch soeben zur "opportunistischsten Größe der Republik".

Die PDS aber liegt schon auf der Lauer. Bisky & Gysi wollen sich die offenkundige Selbstblockade der grünen Wendehälse und alternativen Moral-Bellizisten zunutze machen. Die derzeitige Kriegs- und Systempostensicherungspolitik der Fischer, Trittin, Volmer und Radcke könnte, weiteres trittsicheres Taktieren vorausgesetzt, zum Sprungbrett für die demokratischen Sozialisten werden: die Selbstvaporisierung der Grünen erlaubt es womöglich jener einzigen politischen Kraft Vereinigungsdeutschlands, die das Attribut "konservativ" zu tragen verdiente, sich auch in den Territorien der alten Bundesrepublik relevant zur Geltung zu bringen.

Wer aber hat in der Schröder-Fischer-BRD noch "theoretische Probleme"? Es ist Lutz Schulenburg, Chef der famosen Hamburger Edition Nautilus, und die Redaktion, mit der er seit 1980 Die Aktion herausbringt. Mit Franz Pfemferts frühexpressionistischer Zeitschrift hat das Blatt mehr als nur den Namen gemeinsam, insbesondere die graphische Gestaltung und die kompromißlose Schärfe des Blicks weisen auf jene sagenhafte Frühzeit der Aktion zurück, in der die Texte, die Kritik, die Theorie das Tanzen lernte.

Die aktuelle Ausgabe widmet sich speziell den jugoslawischen Erbfolgekriegen, mit denen sich die "Neue Weltordnung" nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation bezeichnend einführte. Martin Rheinlaender macht sich in einem großen Essay über die Berliner Republik her: am 24. März 1999 um 18.55 Uhr habe deren Geburtsstunde geschlagen, statt schwarzrotgold nato-oliv gefärbt. An diesem Tag habe sich die BRD, "seit jeher der Flugzeugträger der USA und anderer Alliierter", zur aktiven Teilnahme an der imperialistischen Politik "des Westens" bekannt.

Zuvor habe man sich heuchlerisch zurückgehalten, gleichwohl die Ernte kräftig mit eingefahren: "Die deutsche Interventionsarmee braucht keine Rudels und Rommels zum Vorbild – im Cockpit der Tornados sitzen die Nachgeborenen des Bomber-Harris, der Hiroshima-Piloten und der Napalm-Bomber von Vietnam. Die Bundeswehr ist also eine hochmoderne Armee, die sich wahlweise auf preußisch-nationale wie demokratisch-imperialistische Traditionen berufen kann. Angesichts der militärischen Realität des März 1999 ist freilich jede Unterscheidung zwischen dieser oder jener reaktionären Tradition zum reinen Vexierspiel geworden. Der jahrzehntelange Kampf im symbolischen Raum hat sich erledigt. Es gibt Einsatzgruppen und Schlachtfelder zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Es gibt nur noch einen militärischen Raum, der die sozialen und politischen Gewaltverhältnisse neu und nachhaltig bestimmt."

Das las man so klar noch nirgends. Gerade das linke Biedermeier der BRD sei zu Ende; Konkret und andere vermeintlich linke Postillen arbeiten, so Rheinlaender, bewußtlos-tumb an der "Selbstzerstörung einer möglichen Systemopposition", da ihre antinational-deutschfeindliche Eingespurtheit sie in die Sackgasse einer Auslieferung ans US-imperialistische Kalkül geraten ließ.

Der junge Fritz, der preußische Kronprinz, habe in seinem "Anti-Machiavell" eine moralische Grundlegung von Politik versucht – der alte Fritz erntete die Früchte seiner Kriege, insbesondere der willkürlichen Annektierung Schlesiens. Machiavelli, Clausewitz und Lenin werden als Realisten des Politischen gepriesen, sähen sie doch im Krieg kein Übel, sondern allenfalls in dessen falschen politischen Zielen. Die radikalen Linken um die Aktion aber lehnen den Krieg an sich ab und entlarven in der Folge die humanitären Begründungen zur Führung desselben, das Menschenrechtsgefasel des Westens diene der Herstellung des massenideologischen Konsens: "Eine Kabinettsfigur wie Joschka Fischer ist die spätmoderne Wiedergeburt des frühmodernen preußischen Kronprinzen. Und in beiden Fällen gilt, daß die schwatzhafte Rhetorik der Jugendjahre bald dem Stakkato-Ton der Maschinengewehrsalven weicht."

Radikale Humanität aber wird nicht nur in der Figur des Partisanen praktisch-real, sondern auch in der des Deserteurs: "Wird die Systemopposition, diesseits oder jenseits der Front, nur zu einer neuen Soldateska unter Freiheitsfahnen, findet nichts anderes statt als die Wiedergeburt der Politik aus dem Geist des Krieges. (...) Der Krieg selbst ist das Medium einer Machtrekonstruktion, einer imperialistischen Neuordnung der internationalen wie regionalen Machtverhältnisse nach 1989, und deshalb ist er von Anbeginn ein Angriffskrieg, der alles auszulöschen, zumindest zu marginalisieren und auch zu kriminalisieren sucht, was diese Neuordnung unterlaufen könnte. Er hat nie aufgehört, auch ein sozialer Krieg zu sein. Wenn auch unter anderen historischen Bedingungen, zeigt sich der Krieg erneut als das junggebliebene Monster, das losgelassen wird, um das Oben und Unten zwischen den Staaten zu verschieben, gar um auf diese Weise Völker zu machen, die glauben sollen, bloß dann Völker bleiben zu können, wenn sie einander nur noch als Bestien erkennen können. Die manichäischen Weltbilder von Gut und Böse, das satanische Bild, das sich der Westen von Milosevic wie zuvor vom ’Irren von Bagdad‘ als Reinkarnation Adolf Hitlers macht, gehören zu dieser menschenrechtlich-ideologischen Bestialisierung ebenso dazu wie die mythischen Nationalkollektive in Ex-Jugoslawien. Der Ritterkitsch der Amselfeld-Saga findet seinen Gegenpart in der Kriegskintopp-Ästhetik von CNN und ARD."

Der Nach-89er-Imperialismus "des Westens" sei selbst zu einer einzigen Eskalation geworden, der man am wenigsten mit "Debatten über revolutionäre Gegenstrategien" beikomme; nur "die Absage ans Mitmachen hier und heute, die gesellschaftliche Dissidenz in allen Bereichen des Lebens und die Verweigerung von Gefolgschaft" seien wirksame Widerstandshaltungen, denn "der Terror der ethnischen Vertreibung oder Unterwerfung und Ausgrenzung ändert sich nicht, wenn er lediglich die Richtung wechselt".

Die offene Frage nach der politischen Zielsetzung, die mit der Beschwörung vom "drohenden Gesichtsverlust der Nato und des Westens" verdeckt wird, treibt unvermutete Positionen wie die des deutsch-amerikanischen Vordenkers Heinrich ("Henry") Kissinger hervor; in der Welt am Sonntag vom 21. Februar zeigte der Ex-US-Außenminister jenen verblüffenden Grad von Einsicht, wie man ihn nicht selten bei Amtsträgern außer Amt und Würden findet: "Von Jugoslawien, einem souveränen Staat, verlangt man die Übergabe der Kontrolle und Souveränität über eine Provinz mit etlichen nationalen Heiligtümern an ausländisches Militär. Analog dazu könnte man die Amerikaner auffordern, fremde Truppen in Alamo einmarschieren zu lassen, um die Stadt Mexiko zurückzugeben, weil das ethnische Gleichgewicht sich verschoben hat. Wird die Nato zur Artillerie für ethnische Konflikte? Wenn im Kosovo, warum nicht auch in Ostafrika oder Zentralasien?"

Es ist eine Schimäre – "die Moral", die man dem Verfassungs- und Völkerrecht überordnet, so Schulenburg, als gäbe es "diese universale Abstraktion der westlichen Humanität in Wirklichkeit"; tatsächlich verhält es sich so, daß es Moral nur im Plural heterogener Moralen gibt, als dieses oder jenes Ethos, diese oder jene sittliche Praxis, basierend auf kulturell-religiösen Traditionsprägungen, die historisch, geographisch, sozial und mental grundverschieden sind. Der Totalitätsanspruch des westlichen Demokratismus greift insbesondere geistig aus, und seine Menschenrechtsmoral gerät mehr und mehr in Konflikt mit der Moral anderer Gestaltungsmächte, deren Normen und verhaltenssteuernde Ressourcen sich aus völlig anderen Quellen speisen. Der Westen bekämpft in Wahrheit auch diese Pluralität, indem er einen moralischen Alleinvertretungsanspruch seines christlich-liberalen Normativitätsmodells zu etablieren sucht.

Schulenburg erinnert daran, daß seine Edition Nautilus schon zu Beginn der 80er Jahre "Nachhilfeunterricht für Friedensbewegte" gab, indem man "die Hauptthese von Clausewitz als Broschüre herausbrachte"; er erinnert sich "noch lebhaft, wie die Leute vom Typus Angelika Beer (1999 Bundeswehr-Fachfrau der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, die Verf.) diesen bescheidenen Versuch, etwas zur Aufklärung über das Wesen des Krieges beizutragen, als kriegsfördernde Hetze ansahen. Heute zeigt sich manifest, wie stark die ideologische Limonade in den Köpfen der Linken, egal ob im Friedens- oder Militanzflügel beheimatet, blubberte; das Resultat zeigt sich jetzt im auffälligen Mangel an ethischer Standfestigkeit: der willig befolgte Zwang zur Parteinahme verdrängt die einzig legitime Haltung – zumindest für sozialistische Linke –, die historisch noch Substanz hat, die des Defaitismus. Die Parteinahme für die Bomber-Humanisten oder den panslawistischen Anti-Imperialismus lassen den Krieg funktionieren. (...) Foucault weist in einer seiner Vorlesungen nach, daß der vielzitierte Satz von Clausewitz, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, nur die Umkehrung einer wesentlich älteren Prämisse ist: mindestens ebenso sehr sei Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Der Krieg ist der ’unauslöschliche Grund aller Machtverhältnisse und -einrichtungen', Krieg der ’Motor der Institutionen und der Ordnung‘. Auch in dem geringsten seiner Räderwerke wird der Frieden vom Krieg getrieben. Anders gesagt: man muß unter dem Frieden den Krieg herauslesen.’"

Ferner bietet dieses vorzügliche Heft der Aktion eine sozialhistorische Rekonstruktion der Balkan-Verhältnisse vom Jahre 1941 bis zu den besonders Deutschland bekannten Terror-Bombardements "des Westens", nach deren luzider Analyse man in der BRD-Publizistik unserer Tage vergebens suchte. Überdies tritt erneut jene vorerst noch aufs theoretische Feld beschränkte, überaus spannende Bewegung zutage, in der (nicht-völkische) rechte und (antiliberale) linke Kritik am markttotalitär-konsumistischen Ökonomismus, an seiner Abschaffung des Politischen überhaupt, weitgehend zur Deckung kommen. Beide werden von der verzweifelten Hoffnung getrieben, nicht die Letzten von gestern, sondern die Ersten von morgen zu sein: "Daß in ganz Osteuropa erst unter der staatssozialistischen Macht relativ stabile Nationalstaatskonstruktionen entstanden, legitimiert weder diese Systeme noch deren Nation-Form. Sie wirft aber die Frage nach einer fortschrittlichen Aneigung des historisch erreichten Standes von Vergesellschaftung auf. Die Nonchalance, mit der heute eine abstrakte Kritik der National-Staatlichkeit Hand in Hand gehen kann mit der imperialen Zerstörung sozialer und politischer Räume, läßt diese Frage um so dringlicher erscheinen. Anders gesagt, nicht die Idee einer jugoslawischen ’Nation‘, wohl aber das Konzept einer Staatsform, die sich eben nicht mehr ethnisch-national begründete, ist ein historischer Fortschritt gewesen und bleibt es in der Rückschau angesichts der Zerstörung des Sozialen im vormaligen Jugoslawien um so mehr."

Die taz-Linke steht diesen Errungenschaften des Durchblicks eher indifferent gegenüber und fragt sich und ihre Leserschaft zu Ostern ’99 ironisch: "Welche dunklen geostrategischen Ziele aber verfolgt wohl die Nato auf dem Balkan?" Die Aktion hilft dem braven ökoliberalen tazler, der es mit dem "Jetzt stelle mir uns mal janz dumm" eines Paul Henckels ("Die Feuerzangenbowle") hält: "Ein kurzer Blick in Brzezinkis Buch ’Die einzige Weltmacht‘ genügt, um aufzuzeigen, von welchen Kriterien und Zielen das Handeln der USA nebst ihrer qua Nato formierten westeuropäischen Satellitenschaft bestimmt wird." In der Tat gehen dem Leser die Augen über, wenn der Ex-Planer aus White House und Pentagon über den Teich blickt: "Das eigentliche Problem, das Europa in zunehmendem Maße zu schaffen macht, ist ein extrem belastendes Sozialsystem, das die Wirtschaftskraft schwächt und die politische Aufmerksamkeit Europas nach innen lenkt. Sollte die von den Vereinigten Staaten in die Wege geleitete Nato-Osterweiterung ins Stocken geraten, wäre das das Ende einer umfassenden amerikanischen Politik für ganz Eurasien. Ein solches Scheitern würde die amerikanische Führungsrolle diskreditieren, es würde den Plan eines expandierenden Europa zunichte machen (…) und für Amerika wäre es nicht eine regionale, sondern eine globale Schlappe."

Der jetzige Krieg auf dem Balkan nimmt somit die Gestalt eines Manövers im Rahmen solch weitgesteckter Ziele an; er ist keineswegs, wie Schröder und Fischer suggerieren, die Ausnahme, vielmehr steht er am Beginn einer ganzen Reihe ähnlicher Blutbäder, die uns "humanitäre Falken" (Johannes Gross) vom Schlage Scharpings zum Ruhme der "Berliner Republik" bescheren werden.

 

Jutta Winckler-Volz schrieb zuletzt in JF 21/99 über das spurlose Verschwinden einer Arno-Breker-Skulptur in Bonn.


 
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