© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


Kolumne
Ablenkungen
von Klaus Motschmann

Je länger der Kosovokrieg dauert, desto weniger kann man sich des Eindrucks erwehren, daß er als ein gigantisches Ablenkungsmanöver im Kampf um die Neuordnung Europas inszeniert worden ist, ganz so, wie man es in der Literatur zur Strategie und Taktik des Krieges aller Völker und Zeiten nachlesen kann: von Sun Tsu über Carl von Clausewitz bis zu Lenin und Burnham in unserem Jahrhundert, um wenigstens einige Namen zu nennen.

Niemand wird bestreiten wollen, daß die Aufmerksamkeit der "einsamen Masse" (Riesman) seit nunmehr zwei Monaten erfolgreich auf den Krieg im Kosovo gelenkt, und damit von den entscheidenden Problemen unseres Volkes und Europas abgelenkt wird. Man denke nur an die rasante Talfahrt des Euro, an die stetig wachsende Staatsverschuldung von inzwischen 1,5 Billionen Mark, an die anhaltende Zuwanderung (neuerdings durch Kosovaren) von Asylanten und Flüchtlingen – vor allem aber an die ungebremste Erosion der kulturellen Grundlagen unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen sowie unserer Wertvorstellungen. Diese Erosion ist die entscheidende Voraussetzung dafür, daß einem Volke die Möglichkeiten eigener, souveräner Entscheidung abhanden kommen.

Mit militärischer Gewalt lassen sich immer nur vorübergehende Erfolge erzielen; ein wirklicher Sieg zielt auf die Zersetzung, Lähmung und schließlich freiwillige Preisgabe der eigenen Positionen ab. Dazu heißt es – zirka 500 Jahre v.Chr. – bei Sun Tsu: "Die höchste Kunst der Strategie besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne Kampf auf dem Schlachtfeld zu brechen. Nur auf dem Schlachtfeld ist die direkte Methode des Krieges notwendig; nur die indirekte kann aber einen wirklichen Sieg herbeiführen und festigen. Zersetzt darum alles, was im Lande des Gegners gut ist." Dazu gehört unter anderem der völkerrechtlich abgesicherte Grundsatz, daß an einem Volk nicht nur physische, sondern auch psychologische Verbrechen verübt werden können. Die Internationale Konvention zur Verhinderung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 spricht in diesem Zusammenhang von "geistigem Völkermord" und definiert ihn als "schweren Angriff auf die physische oder geistige Integrität einer Gruppe".

Von "physischen Angriffen" dieser Art haben wir in den letzten Wochen viel gehört. Von den Angriffen der anderen Art auf unser Volk hören wir so gut wie gar nichts. Warum nicht? Sind es womöglich sichere Indizien eines "wirklichen Sieges" im Sinne Sun Tsus durch freiwillige Selbstaufgabe unserer geistigen Integrität?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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