© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


Großmäche: Die Konfrontation zwischen den USA und China ist unausweichlich
Der fernöstliche Drache erwacht
Michael Wiesberg

Am 8. April dieses Jahres berichtete die New York Times, daß US-Regierungsbeamte Anfang 1996 einen aufsehenerregenden Bericht eines in China tätigen US-Agenten erhalten hätten. Mitarbeiter des chinesischen Geheimdienstes prahlten damit, so berichtete dieser Spion, daß sie Geheimdokumente aus den Vereinigten Staaten gestohlen hätten, die zur Verbesserung des chinesischen Neutronenbombenprogramms herangezogen würden. Die New York Times merkte an, daß der betreffende US-Agent in der Vergangenheit verläßliche Informationen geliefert hätte, so daß davon ausgegangen werden könne, daß seine Erkenntnisse seriös seien.

Dieser und andere einschlägige Berichte passen so ganz und gar nicht zu den Versuchen der US-amerikanischen Regierung, die Spionageaktivitäten Chinas zu relativieren. Clintons Sprecher Lockhardt erklärte in diesem Zusammenhang gar, es gäbe keine eindeutigen Beweise dafür, daß die Chinesen im großen Stil in den USA Atomspionage betrieben hätten.

Diese Erklärung kommt nicht nur vor dem Hintergrund des Artikels in der New York Times einer groben Entstellung der Faktenlage gleich. Bereits am 6. März dieses Jahres berichteten James Risen und Jeff Gerth für dieselbe US-Zeitung, daß Atomwaffenexperten in Los Alamos über den Daten der letzten unterirdischen chinesischen Atomtests brüteten, die eine "unheimliche Ähnlichkeit" zwischen den jüngsten amerikanischen und chinesischen Atomwaffentypen erkennen ließen.

Diese Indizien decken sich mit dem Bericht des republikanischen Abgeordneten Christopher Cox (Kalifornien) über die Spionageaktivitäten Chinas in den USA. In diesem Bericht steht u.a. folgendes zu lesen: Die Volksrepublik China (VRC) habe Informationen über die am weitesten entwickelten Nuklearsprengköpfe der USA gestohlen. Dieser Diebstahl müsse im Zusammenhang eines zwei Jahrzehnte umfassenden nachrichtendienstlichen Aufklärungsprogramms Chinas gesehen werden, das bis in die Gegenwart hinein anhalte. Dieses Programm beinhalte neben Spionageaktivitäten vor allem umfangreiche wissenschaftliche Austauschprogramme mit Mitarbeitern amerikanischer Waffenentwicklungsanstalten in Los Alamos, Lawrence Livermore, Oak Ridge und Sandia.

Es sind diese Austauschprogramme, die die Untersuchung der chinesischen Spionageaktivitäten nach Aussagen von ermittelnden FBI-Beamten erheblich erschwerten. So schreibt James Risen in der New York Times vom 9. März dieses Jahres, daß die Chinesen oftmals Vorteile aus den wissenschaftlichen Austauschprogrammen und den anderen Formen wissenschaftlicher Kontakte zögen. Sie gelangten so in den Besitz weitreichender Informationen, so daß es sehr schwierig sei, zu bestimmen, durch welche undichte Stelle militärische Geheimnisse gesickert seien.

Akademischer Austausch für Spionage mißbraucht

Erschwerend komme der überproportional hohe Anteil amerikanischer Wissenschaftler hinzu, die im Ausland geboren sind. Tim Weiner zitiert in diesem Zusammenhang am 14. März dieses Jahres in einem Artikel für die New York Times einen amerikanischen Diplomaten, der unter Präsident Reagan in Peking tätig war. Ob es in Zukunft einen Generalverdacht gegen chinesische Wissenschaftler geben werde, fragt dieser Diplomat besorgt und fügt hinzu: Bewegen wir uns auf eine Hexenjagd zu? Wie werde es sich auf die Konkurrenzfähigkeit der USA auswirken, wenn diese ausländischen Wissenschaftler in den USA nicht mehr beschäftigt würden?

Daß die Chinesen die akademischen Austauschprogramme für nachrichtendienstliche Aktivitäten benutzt, kann als gesichert gelten. Nicholas Eftimiades, Mitarbeiter der amerikanischen Spionageabwehr, schrieb in seinem Buch "Chinese Intelligence Operations" bereits 1994, daß sich die Mitarbeiter des chinesischen Nachrichtendienstes einer bewährten Methode bedienten, wenn sie chinesische Wissenschaftler anhielten, US-Kollegen im Rahmen akademischer Austauschprogramme nach China einzuladen. Eftimiades stellt weiter fest, daß die COSTIND ("China’s Commission of Science, Technology and Industry") alle Kosten trage, die durch die Besuchsprogramme entstünden. Nach festgelegten Unterrichtsstunden mit den US-Kollegen würden dann "besondere Sitzungen" mit den Experten der COSTIND folgen, die die amerikanischen Wissenschaftler entsprechend aushorchten. Zusammenfassend stellt Eftimiades fest, daß die COSTIND chinesische Wissenschaftler in die USA schicke, damit diese Informationen für die Entwicklung chinesischer Waffensysteme sammelten.

Weitere Informationen liefert die Stellungnahme der US-Regierung zu der Vernehmung von Peter Lee, einem chinesisch-amerikanischen Wissenschaftler, der der Spionage für China verdächtigt wird. In dieser finden sich auch Aussagen des FBI-Beamten Gilbert R. Cordova, der folgendes zu Protokoll gab: Es gebe in China insbesondere zwei wissenschaftliche Institutionen, die an der Ausspähung amerikanischer Wissenschaftler beteiligt seien: die Chinesische Akademie für Physikalisches Ingenieurswesen (CAEP) und das Institut für Angewandte Physik und Computermathematik (IAPCM). Beide Institute sind für die Planung und Entwicklung des chinesischen Atomwaffenprogramms zuständig.

Die Erkenntnisse, die die Chinesen aus den gestohlenen US-Dokumenten gezogen hätten, haben laut Cox-Bericht wesentlich dazu beigetragen, daß die Chinesen moderne Nuklearsprengköpfe hätten bauen und erfolgreich testen können. Besonders schmerzt die Amerikaner, daß ihr technisch ausgefeiltester Atomsprengkopf, der in Los Alamos entwickelte U-Boot-gestützte Gefechtskopf W-88 (W="Warhead") mit ziemlicher Sicherheit von den Chinesen ausspioniert worden ist.

Der Gefechtskopf W-88 wird für die Trident D-5 SLBM-Raketen (SLBM= Submarine Launched Ballistic Missile) verwendet. Das besondere an den modernen Gefechtsköpfen ist, daß eine Rakete mehrere Sprengköpfe tragen kann. Auf diese Weise konnte die Sprengkraft von 12.500 Tonnen TNT, die die Hiroshima-Bombe "Little Boy" aufwies, auf 300.000 Tonnen TNT gesteigert werden. Das heißt, daß zum Beispiel die US-Interkontinentalrakete "Peacekeeper" (mit dem Gefechtskopf W-87) eine um 24mal höhere Sprengkraft als die Atombombe von Hiroshima aufweist.

Der Cox-Bericht geht davon aus, daß die Chinesen inzwischen im Besitz von Kenntnissen über die Beschaffenheit und Funktionsweise aller derzeit in den USA verwendeten Gefechtsköpfe sind. Welche Folgen diese Kenntnisse für die USA zeitigen könnten, brachte der ehemalige Verteidigungsminister Perry in der New York Times vom 15. März dieses Jahres auf den Punkt: Ob mit oder ohne den Atomsprengkopf W-88 sei China heute in der Lage, die USA zu bedrohen. Perry weiß, wovon er redet. Er besuchte China in diesem Frühjahr und traf führende Repräsentanten des chinesischen Militärs und Chinas Staatspräsidenten Jiang Zemin. Die USA hätten sich darauf einzustellen, so erklärte Perry, daß China seine militärischen Möglichkeiten in Zukunft beständig steigern werde. China werde mehr und mehr zu einem globalen Machtfaktor werden. Die Herausforderung bestehe darin, wie die USA auf diesen Machtfaktor reagierten.

Globale Dominanz des Westens wird bekämpft

Im selben Artikel schreibt Bates Gill, ein Spezialist für chinesische Militärfragen an der renommierten Brookings-Institution, daß selbst dann, wenn die Chinesen ihre derzeitigen Atomsprengköpfe durch multiple Atomsprengköpfe auswechselten, die USA einen überwältigenden strategischen Vorteil behielten. Allerdings würden die strategischen Operationen der USA durch eine derartige Aufrüstung seitens der Chinesen in Zukunft komplizierter werden.

Festgehalten werden kann also, daß sich China und die USA mehr und mehr zu globalen Konkurrenten entwickeln. Dies gilt auch dann, wenn Chinas Rückstand auf das Nuklearwaffenprogramm noch beträchtlich ist. Zu dieser Einschätzung kommen auch die beiden amerikanischen Asienexperten Richard Bernstein und Ross H. Munro in ihrem Buch "The Coming Conflict with China" (New York, 1997). Die Autoren vertreten die These, daß der Antagonismus zwischen China und den USA der erste massive Konflikt des 21. Jahrhunderts sein werde. Die Rivalität zwischen beiden Supermächten werde sich auf alle relevanten Wettbewerbsbereiche erstrecken: militärische Stärke, wirtschaftliche Stabilität, Hegemonie über andere Nationen sowie auf das, was der Westen als sein ureigenstes Terrain betrachtet: internationale Normen und Werte.

Bernstein und Munro sehen einen harten und im Grunde nicht aufzulösenden Interessengegensatz zwischen den USA und China. Die USA seien in den letzten hundert Jahre bemüht gewesen, so die Autoren, die Vorherrschaft eines Staates in der asiatischen Region zu verhindern. Genau nach dieser Vorherrschaft strebten jetzt die Chinesen, so daß die Interessen der USA und Chinas in Zukunft zwangsläufig kollidieren müßten.

Weiter argumentieren die Autoren, daß Chinas enge Kooperation mit Rußland, seine technologische und politische Unterstützung für islamische Staaten in Nordafrika und Zentralasien und seine steigende Hegemonie in Ostasien China mehr und mehr in das Zentrum eines locker geknüpften Netzwerkes von Staaten rücken lasse, deren politische Ziele denen der USA zuwiderlaufen. Diese Staaten verbinde darüber hinaus die Ablehnung einer weltumspannenden westlichen Dominanz. Bernstein und Munro kommen zu dem Ergebnis, daß China nicht länger als strategischer Freund betrachtet werden könne, sondern als Langzeitfeind der USA.

Für die Untermauerung ihrer Thesen ziehen die beiden Autoren das Buch "Kann die chinesische Armee den nächsten Krieg gewinnen?" heran, das zunächst als internes, nur hochrangigen Funktionären zugängliches Dokument veröffentlicht wurde. Durch ein Versehen wurde aber auch eine Pekinger Buchhandlung beliefert, wo ein Amerikaner ein Exemplar kaufte. Diesem ist es zu verdanken, daß sich der Westen ein besseres Bild über die chinesischen Absichten machen kann.

Die chinesischen Autoren dieses Buches argumentieren, daß sich nach dem Jahre 2000 die asiatische Pazifikregion voraussichtlich mehr und mehr zur strategischen Priorität der USA werden wird. China müsse deshalb handeln, solange die USA an anderen Schauplätzen gebunden sei. Wörtlich wird festgestellt: "Das Hauptgewicht militärischer Konfrontationen am Ende dieses Jahrhunderts und zu Beginn des folgenden wird weltweit auf regionalen Kriegen liegen. Wer in der Übergangszeit initiativ wird, wird in der künftigen militärischen Ordnung eine entscheidende Position einnehmen." Und weiter: "Aufgrund ihrer jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Interessen in der asiatischen Pazifikregion werden sich diese beiden Staaten (die USA und China, d.V.) in ständiger Konfrontation miteinander befinden."

Wirtschaftliche Vorteile bremsen die Konfrontation

Diese Sichtweise macht eines sehr deutlich: Der Begriff der "strategischen Partnerschaft", den die Präsidenten Clinton und Jiang Zemin prägten, ist das Papier nicht wert, auf dem er steht. Warum verhält sich die USA – und dies ist die Frage, die in diesem Zusammenhang noch zu klären ist – dennoch so moderat gegenüber China? Eine instruktive Antwort auf diese Frage liefern die bereits genannten Autoren Bernstein und Munro mit ihrem Verweis auf den wachsenden Einfluß der "Chinalobby" in den USA. Es gibt inzwischen eine Reihe von namhaften amerikanischen Politikern, von denen der ehemalige Außenminister Kissinger der bekannteste ist, die als Ratgeber oder Vermittler für in China tätige US-Unternehmen üppige Honorare einstreichen. Kissinger selbst habe, so die beiden Autoren, ein Unternehmen gegründet ("Kissinger Associates"), das eine "Vielzahl amerikanischer Gesellschaften" vertrete, die "mit der Volksrepublik China Geschäfte machen" wollten und dem ehemaligen Außenminister für seine "beispiellosen Kontakte zu den Mächtigsten Chinas" bedeutende Beträge zahlten.

Es kann bei diesem Hintergrund nicht weiter verwundern, daß sich Kissinger bei der Geißelung des Massakers auf dem "Platz des himmlischen Friedens" nicht nur zurückhielt, sondern sogar um Verständnis für das Verhalten der chinesischen Staatsführung warb. Eine allzu vehemente Verdammung des Massakers hätte seine guten Kontakte zur höchsten chinesischen Führungsschicht wahrscheinlich verschlechtert, was sich geschäftsschädigend ausgewirkt hätte.

Die Chinesen wissen die amerikanischen Wirtschaftsinteressen in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Diejenigen amerikanischen Politiker, die sich allzu kritisch über die chinesische Politik äußern, verlieren bei Chinas Mächtigen schnell an Einfluß. Diese Konstellation erklärt die besondere Zurückhaltung der Regierung Clinton im Hinblick auf die aktuelle Spionageaffäre. Die wirtschaftlichen Interessen überlagern die sich abzeichnende strategische Konfrontation mit der künftigen Supermacht China. Nichtsdestotrotz wird die Konfrontation der USA mit China unausweichlich sein.


 
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