© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


Gesundheit: Referentenentwurf für die "Gesundheitsreform 2000"
Ein Korsett für alle
Jens Jessen

Statt sich auf die Vorgabe von Spielregeln zu begrenzen, will Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer dem deutschen Gesundheitswesen ein Korsett verpassen, das weder den Kassen noch den Leistungsanbietern Raum zum Atmen läßt, geschweige denn Anreize zu Innovationen im Gesundheitswesen bietet. Das vorhandene Regulierungsgestrüpp wird kräftig vermehrt: Steuerungsinstrumente statt Grundsätze der freien Waren- und Dienstleistungsgesellschaft, Patienten ohne Wahlmöglichkeiten, Zulassungsbegrenzungen für Vertragsärzte, Breitseite gegen die erfolgreichen Betriebskrankenkassen mit einer Regelung, die einem Neugründungsverbot gleichkommt.

Die falsche Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen kann so nicht korrigiert werden. Wie in jeder russischen Matrioschka-Holzpuppe eine weitere versteckt ist, so steckt in jedem Budget ein weiteres Budget: das Globalbudget, darunter das Arznei- und Heilmittelbudget, das Krankenhausbudget, das Budget für die ambulante ärztliche Versorgung und dann im zuletzt genannten Budget noch eines für die hausärztliche und eines für die fachärztliche Versorgung. Schließlich wird es noch ein Budget für die "Integrationsversorgung" geben, das aus den sektoralen Budgets gespeist wird.

Diese Vielfalt muß unter einen Hut gebracht werden. Dazu bedarf es der vorgeschriebenen Kontroll- und Prüforgien. Die lassen sich nur durchführen, wenn es viele Daten gibt, die miteinander verknüpft werden. Deshalb ist in dem Arbeitspapier zur Gesundheitsreform 2000 im geänderten Paragraph 276 Sozialgesetzbuch V (SGB V) vorgesehen, alle personenbezogenen Daten und Unterlagen beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen zusammenzuführen. Im Oktober 1995 hatten die Bündnisgrünen noch die von Horst Seehofer (CSU) vorgesehene Weitergabe persönlicher Daten der Patienten auf das Schärfste verurteilt. Das gilt heute nicht mehr. Der gläserne Patient und der gläserne Arzt sind das Ziel.

Die Gesundheitsprofis der Regierungsparteien haben am 26. Mai das Globalbudget als Obergrenze für die geplante Strukturreform im Gesundheitswesen endgültig festgeschrieben. Die Aufstellung und Kontrolle der Gesamtbudgets in den Ländern liegt bei den einzelnen Kassen und nicht mehr bei den Kassenverbänden. Die haben nur noch eine Überwachungsfunktion. Wird eine Überschreitung des Globalbudgets bei einer Krankenkasse festgestellt, hat sie diese innerhalb von zwei Jahren auszugleichen. Zwar sind die Vorstellungen der Gesundheitsministerin zur integrierten Versorgung und der dazu notwendigen Verträge zwischen den Krankenkassen, den Krankenhäusern und den niedergelassenen Ärzten nicht mehrheitsfähig gewesen. Den Kassenärztlichen Vereinigungen soll eingeräumt werden, Vertragspartner zu sein. Damit die Krankenkassen nicht dem Ärger der Vertragsärzte ausgesetzt werden, haben sie die Gesundheitsprofis dringend gebeten, von einer Beteiligung der Krankenkassen an der Festlegung der Honorarverteilungsmaßstäbe abzusehen. Die Furcht der Kassen hat die Regierung bewogen, deren Wunsch zu entsprechen. Die Vertragsärzte können damit ihren Frust und Zorn wie bisher bei den Kassenärztlichen Vereinigungen abladen.

Zusätzliche Belastungen für die Kassen

Eine Parallelentwicklung des Globalbudgets mit der des Grundlohns bedeutet die Anpassung der Ausgaben an die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Eine höhere Arbeitslosenquote und eine geringe Lohn- und Gehaltserhöhung bedeuten eine geringe oder gar keine Grundlohnerhöhung. Mehr Menschen in abhängiger Tätigkeit und stärkere Lohnerhöhungen führen zum Gegenteil.

Diese Kombination ergibt einen Widerspruch zu den gesetzlichen Vorgaben im Sozialgesetzbuch V. In Paragraph 12 steht: "Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten." In Zeiten einer florierenden Wirtschaft ist diese Mahnung nötig. Was aber, wenn diese ausreichenden und zweckmäßigen Leistungen nicht mehr erbracht werden können, da das Geld fehlt? Jetzt müßte es heißen, daß die notwendigen Leistungen nur im Rahmen der Grundlohnsteigerung zur Verfügung gestellt werden dürfen. Je besser die Entwicklung des Bruttoinlandproduktes (BIP), desto mehr notwendige Leistungen dürfen erbracht werden. Das ist keine Gesundheitspolitik, sondern eine an der Ausgaben-/Einnahmenrechnung orientierte Verteilungspolitik.

Aber selbst diese Rechnung geht nicht auf, wenn zusätzliche Belastungen wie selbstverständlich den Kassen zugemutet werden: 600 Millionen Mark für den Ausbau der Gesundheitsförderung, eine Verringerung der Zuzahlungen durch die Patienten, die Entlastung der Länder durch die Übernahme der Krankenhausfinanzierung durch die Krankenkassen, die Ausweitung der Zuständigkeit des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, zu deren Wahrnehmung mehr ärztliches Personal und mehr Bürokräfte benötigt werden. Die Budgetüberwachung durch die Krankenkassen und deren zusätzliche Aufgaben werden auch dort zu mehr Personal führen. Das sind nur einige offensichtliche Kosten, die auf die Krankenkassen zukommen und die aus den Beitragseinnahmen zu finanzieren sind.

Das Argument, durch die Einnahmen aus den 630-Mark-Jobs ließen sich die Löcher stopfen, ist eine Milchmädchenrechnung. Schon jetzt ist es zu massenhaften Kündigungen durch die betroffenen Arbeitnehmer bzw. Arbeitgeber gekommen und zu Überlegungen der rot-grünen Koalition, neue Ausnahmen von der gerade getroffenen Regelung vorzunehmen. Einnahmen von 1,2 Milliarden Mark aus den Beiträgen dieser Billigjobs können nur noch im Traum als realistisch angesehen werden. Trotzdem hält die grüne Bundesgesundheitsministerin eisern an ihren veralteten Gegenrechnungen fest.

Um die Versicherten mit mehr Informationen versorgen zu können, sollen die Krankenkassen die Versicherten bei vermuteten Behandlungsfehlern beraten. Verbraucherberatungsstellen werden finanziell gefördert. Dem liegt die Ansicht zugrunde, daß informierte Versicherte Mißbrauch durch Leistungserbringer verhindern. Selbst Gesundheitsexperte Dreßler hat in einem ntv-Gespräch für den Bereich der Abrechnungstransparenz erklärt, der durchschnittliche Versicherte sei darüber erschüttert, daß er so viel zahlt und kostenmäßig nur so wenig Leistung in Anspruch nimmt.

Zu der Organisation der Krankenkassen sagt Frau Fischer nichts. 1998 beschäftigte die AOK-Gesundheitskasse in Deutschland 178.000 Mitarbeiter. Die Verwaltungskosten aller GKV-Krankenkassenarten haben 1998 eine erneute Rekordsteigerung erfahren. Allein die Erhöhung der Ersatzkassen-Verwaltungskosten belief sich auf 6,3 Prozent. Das ist das Siebenfache der Ausgabenzunahme für die ambulante Versorgung durch die Vertragsärzte. Für alle Krankenkassen wurden von den Einnahmen aus Versichertenbeiträgen 13,1 Milliarden Mark oder 5,3 Prozent für die Verwaltung ausgegeben. (Die 750 Finanzämter in Deutschland beschäftigen 129.000 Mitarbeiter.)

Planungsdaten werden durch Vermutungen ersetzt

Die Überzeugung, daß Gesundheit planbar und die Kosten eindeutig vorher bestimmbar sind, mündet in die Globalbudget-Ideologie. Die Entscheidung über die Höhe dieses Budgets und der sektoralen Budgets ist von keinem Zweifel getrübt. Normalerweise sollte sie auf konkreten Informationen basieren. Das aber halten die Experten der Regierung für unwichtig, da sie dem Glaubenssatz anhängen, daß im Gesundheitswesen erhebliche Rationalisierungsreserven schlummern, die nur aktiviert werden müssen. Unbekannt sind den Globalbudgetexperten alle Daten, die Planung möglich machen: es sind weder die Präferenzen der Bevölkerung bekannt, noch die Wirksamkeit aller medizinischen Leistungen und alle Möglichkeiten einer effizienten Leistungserbringung im Detail.

Konkrete Zahlen werden durch nicht nachweisbare Vermutungen ersetzt. Wenn die in die Zange genommenen Leistungerbringer im ambulanten und stationären Bereich wider besseres Wissen in den kommenden Jahren durch radikale Leistungskürzungen die Budgets erfüllen oder sogar unterschreiten, wird es zu weiteren Budgetkürzungen kommen. Das ist der Kern staatlicher Planung. Die Kassenärztlichen Vereinigungen, die in den letzten Jahren mit Kreativität und Einsatz Rationalisierungsreserven im Arznei- und Heilmittelbereich ausgeschöpft haben, werden mit dem verringerten Arznei- und Heilmittelbudget bestraft. Die Initiatoren der gewaltigen Einsparungen bei Ausgaben der GKV bekommen nicht einmal die Anerkennung, die ein Stachanow in der ehemaligen Sowjetunion erhalten hat.

Der "National Health Service" hat Pate gestanden

Wer heute das Gute in den Vorlagen erkennen will, verliert das Grundsätzliche dieses Ansatzes aus den Augen: der National Health Service (NHS) in Großbritannien hat bei dieser Kreation Pate gestanden. Das deutsche Gesundheitswesen wird deshalb auf den Weg des NHS geleitet. Das Ergebnis des staatlichen Gesundheitsdienstes ist in einer Untersuchung der Universität Basel dargestellt worden (Neue Zürcher Zeitung vom 21./22. November 1998): nicht Effizienzsteigerung, sondern Rationierung steht im Mittelpunkt der Globalbudgets in Großbritannien. Ausgerechnet im NHS ist außerdem eine ausgeprägte Zwei-Klassen-Medizin festzustellen. Budgetunterschreitungen werden, so zeigt die Untersuchung der Krankenhäuser in Großbritannien, dazu benutzt, das Budget im Folgejahr entsprechend zu kürzen.

Für das deutsche Gesundheitswesen wird dieser Trend klar anhand des "Benchmarking" bei der Neuregelung zu den Arznei- und Heilmittelbudgets. "Benchmarking" ist nichts anderes als das Synonym des Begriffs "Vergleich". Verglichen wird in der Ökonomie jedoch nicht einfach Mercedes mit Seat, sondern anhand vorgegebener qualitativer Kriterien. Wenn zum Beispiel die Verwaltungskosten einer Kassenärztlichen Vereinigung höher sind als die einer anderen, wird nach den Ursachen gefahndet. Wenn diese gefunden sind, ist die Frage zu beantworten, ob Änderungen vorgenommen werden sollen, die auch von den dort organisierten Ärzten mitgetragen werden.

Im Rahmen des Benchmarking käme aber kein Wirtschaftswissenschaftler auf die Idee zu sagen, die billigste KV-Verwaltung sei Maßstab für alle anderen Verwaltungen. Billiger ist oft nicht kostengünstiger. So ist es auch mit dem Benchmarking für die Arzneimittelversorgung. Wenn die Ursachen für größere Verschreibungssummen eine höhere Morbidität, demographische Unterschiede, ein unterschiedliches Krankenspektrum, abweichende Substitutionsprozesse zwischen ambulantem und stationären Sektor (weniger Krankenhauseinweisungen durch größeren Einsatz der Pharmakotherapie) sind, dann ist das vorgeschlagene Benchmarking nichts anderes als eine Verletzung des Paragraph 12 Sozialgesetzbuch V. Der Versorgungsbedarf der Bevölkerung in den einzelnen Ländern in Deutschland kann nur noch unterschiedlich erfüllt werden. Das Gleichheitsgebot wird von den Verfechtern der Gleichbehandlung zutiefst verletzt.


 
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