© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


Pankraz,
Hans Jonas und die Suche nach dem optimalen Ersatz

An der Universität Jena läuft in diesem Semester – außerhalb des normalen Lehrbetriebes, von einem speziellen, direkt dem Rektor unterstellten Büro organisiert – eine etwas unheimliche Veranstaltungsreihe ab: die sogenannten Jenaer Jahrhundertvorlesungen. Die Zuhörer vernehmen dort aus dem Mund von erstrangigen Experten (Stephen Jay Gould, Lothar Späth, Hans Belting, Dieter Birnbacher, Manfred Lahnstein u. a.), daß alles, was der Wissenschaft bisher teuer war, demnächst "ersetzt" werden wird bzw. bereits "ersetzt" worden ist oder gerade im Begriffe ist, "ersetzt" zu werden. Das neue Jahrhundert, so erfährt man, wird ein Jahrhundert des "Ersatzes" sein.

Ein Abend stand beispielsweise unter dem Motto "Modelle ersetzen die Wirklichkeit", ein anderer trug den Titel "Relationen ersetzen die Kausalität". Es folgten oder werden folgen: "Normierte ersetzen den Patienten", "Medien ersetzen die Literatur", "Neurologie ersetzt die Philosophie"… Kein Stein bleibt in diesem Kolloquium auf dem anderen, und keiner der Redner weint dem, was angeblich ersetzt wird, auch nur eine einzige Träne nach. Der Ersatz, so lautet die Botschaft, ist immer besser als das Original, er ist diesem zumindest "überlegen".

Glücklicherweise wird auch hier nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Manches "Gekochte" erweist sich zudem bei näherer Prüfung als nicht einmal angegart oder wird weiterhin im (nur ein bißchen ausgeschmückten) Rohzustand serviert. Daß wir uns der Wirklichkeit nur annähern können, indem wir ein "Modell", also eine Maske, einen strikt vereinfachenden Annäherungs-Apparat verfertigen und diesen dann wohl oder übel für die Wirklichkeit selbst nehmen, ist ja nicht gerade eine neue, geschweige denn eine Jahrhunderteinsicht.

Die Angelegenheit mit der Kausalität tendiert ebenfalls in Richtung "uralter Hut", riecht nach Sextus Empiricus (um 200 n. Chr.) und nach David Hume (1711 bis 1776). Und der aus Pasadena eingeflogene Neurologe Christof Koch, der angetreten war, die Überflüssigkeit der Philosophie zu erweisen, mußte am Ende froh sein, daß ihm (aus purer Höflichkeit) nicht die Überflüssigkeit der Neurologie in Sachen Erkenntnistheorie vorgerechnet wurde. Wer ersetzt letztlich wen?

Werden "die Medien" je die Literatur ersetzen? Wer so etwas behauptet, verrechnet Äpfel mit Birnen oder Generalmengen mit Teilmengen. Die Literatur ist bekanntlich auch ein Medium, ist immer eins gewesen und kann deshalb nicht durch sich selber ersetzt werden. Es kann sich lediglich darum handeln, ihre Standards zu senken, an Stelle von Wörtern nur noch Bilder zu bieten und an Stelle von Gedanken und Gefühlen nur noch einige aufs Medium selbst bezogene technizistische Tricks und Spielereien. Diese Masche ist zur Zeit in Mode, ob sie der Literatur zum Vorteil gereichen wird, darf man bezweifeln.

Doch vielleicht ist das die eigentliche Botschaft der "Jenaer Jahrhundertvorlesungen": Alles wird demnächst bildträchtiger, banaler und technizistischer, mit einem Wort: billiger. Das erklärte dann auch die üppige Verwendung des Wortes "Ersatz". Denn dessen Etymologie und Bedeutungs-Tradition läuft eindeutig auf Billigkeit hinaus. "Das ist billiger Ersatz", sagt man. Billiger Glasschmuck aus Lauscha ersetzt Diamanten. Technisch billig fabrizierte Pseudo-Perlen ersetzen echte Perlen aus der Muschel. Billiges PVC ersetzte zu DDR-Zeiten teures Blech.

Mag sein, die moderne Ersatzindustrie ist mittlerweile so vervollkommnet, daß man den Ersatz an vielen Stellen gar nicht mehr merkt. Aber Ersatz bleibt es trotzdem, "Plaste und Elaste" aus Schkopau oder Bitterfeld, billiger, leicht zu erlangender Schund. Bestenfalls willkommener Notbehelf, etwa bei Körperprothesen, Armprothesen, Beinprothesen.

Bei den "Jenaer Jahrhundervorlesungen" wird man manchmal den Verdacht nicht los, daß es die Referenten und Debattenredner allen Ernstes auf eine Art Gehirnersatz abgesehen haben. "Künstliche Intelligenz", an die man das Denken künftig guten Gewissens regelrecht delegieren könne. Daher das Unheimliche, Gespenstische der Veranstaltung. Irgend etwas in der Wissenschaft (und wahrscheinlich im Menschen überhaupt) sehnt sich nach der eigenen Abschaffung, nach dem großen General- und Total-Ersatz, der dann keine Fehler mehr macht und keine Aggressionen mehr freisetzt, bei dem alles mit mathematischer, vollkommen gefühlloser Präzision abrollt – und dabei so billig!

Daß der größte Horror sich gerade dann einstellt, wenn alles mit fühlloser, fehlerloser, aggressionsfreier Präzision abrollt, sieht man nicht, will man nicht sehen. Oder doch? Als letzte der "Jahrhundertvorlesungen" ist interessanterweise eine Veranstaltung mit dem Titel "Organismen ersetzen Systeme" vorgesehen, was also beinahe wie eine partielle Rücknahme des vorher Gesagten aussieht, wie Wiedergutmachung.

Jean-Marie Lehn aus Straßburg will da über eine mögliche "Biologisierung" der Physik referieren, ein "organisches, holistisches Paradigma" anbieten, das endlich den rationalistisch-reduktionistischen, in letzter Konsequenz selbstmörderischen Zug der modernen Wissenschaft stoppen und umkehren soll. Ein Ersatz für den Ersatz wird da angepeilt, der freilich nichts anderes sein kann als ein Schlußmachen mit der ewigen Ersatzsucherei, ein Hinnehmen der Originale, wie sie nun einmal sind.

Solches Hinnehmen schließt möglicherweise hier und da die Optimierung von Gestalten und Vorgängen aus, fördert aber die Einsicht, daß es sich, wie schon der verstorbene Hans Jonas nicht müde wurde zu predigen, mit dem Zweitbesten meistens viel humaner leben läßt als mit dem Erstbesten. Das Summum Bonum ist nicht für uns gemacht: Ersatz dafür sollte man nicht suchen.


 
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