© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


Das Versailler Diktat
von Franz Uhle-Wettler

iner der kultiviertesten, zudem einflußreichsten amerikanischen Diplomaten dieses Jahrhunderts, George Kennan, hat den Ersten – nicht den Zweiten! – Weltkrieg als die Urkatastrophe dieses Jahrhunderts sowie als Ursache des Niedergangs der "westlichen Kultur" bezeichnet; manch ein Historiker ist ihm gefolgt. Der Krieg allein kann das nicht bewirkt haben. Das zeigt schon der Vergleich mit den Kriegen der Französischen Revolution und Napoleons. Diese Kriege haben immerhin fast fünfundzwanzig Jahre lang Europa von Portugal bis Moskau verwüstet, zudem wurden sie in noch größeren Räumen, auf fernen Ozeanen sowie in Indien und Nordamerika ausgefochten. Doch niemand hat sie als Urkatastrophe bezeichnet, und eine lange Friedensperiode ist ihnen gefolgt.

So gibt es manch guten Grund zu vermuten, daß die Ursachen der Urkatastrophe weniger im Krieg, so furchtbar er gewesen ist, als noch mehr in seinem Ende und damit in den Friedensverträgen zu suchen sind. Diese Vermutung findet eine erste Bestätigung durch den Blick auf die von den Siegern 1919 geschaffenen neuen Staaten. Kein geringerer als Churchill hat über die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns und ihre Bewohner geurteilt, ihnen allen habe das Jahr 1919 nur diejenigen Qualen gebracht, die Dichter und Theologen "für die Verdammten" beschrieben hatten. Wenn das zutrifft, so haben die Sieger 1919 wohl manches falsch gemacht.

In der Tat: Versailles sowie der vorangegangene Waffenstillstand von Compiègne haben einen essentiellen – essentiellen! – und zudem unheildrohenden Wandel in die Formen und Mittel gebracht, in denen Kulturstaaten miteinander verkehrten. Das zeigt am deutlichsten ein Vergleich mit den Waffenstillstands- und Friedensverträgen von Brest-Litowsk, die das Kaiserreich und seine Verbündeten wenig vor Versailles, also sogar inmitten der Kriegsfurie und sogar mit dem bolschewistisch gewordenen Rußland abgeschlossen hatten.

In Brest-Litowsk wurde noch in den ritterlichen Formen verhandelt, die sich in Jahrhunderten ausgebildet hatten. Die Delegationen aßen gemeinsam am gleichen Tisch und verbrachten die arbeitsfreie Zeit gemeinsam. Schon das war 1919 in Versailles undenkbar; so verkehrten diese Sieger nicht mit Besiegten.

Am 15. Dezember 1917 vereinbarten die zwei Kriegsführenden in Brest-Litowsk einen Waffen-Stillstand im Sinne des Wortes: Sie beschlossen, nicht mehr aufeinander zu schießen. Punktum. Mithin galten alle Bestimmungen für beide Kriegsparteien. Der Text des Vertrags läßt nicht erkennen, wer Sieger und Besiegter war, und die Russen brauchten nicht einmal die besetzten osttürkischen Gebiete zu räumen. Als Zweck wurde festgestellt, einen für "beide" Kriegsparteien "ehrenvollen" Frieden herbeizuführen. Noch bemerkenswerter: Die beiden Parteien vereinbarten "Maßnahmen", um die "der Zivilisation durch den Krieg geschlagenen Wunden so schnell wie möglich zu heilen" und die "kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen" wiederherzustellen. Offensichtlich: Auch die Sieger betrachteten die Wiederherstellung sogar kultureller Beziehungen mit dem Besiegten als wünschenswert.

Ganz anders Compiègne. Dieser Waffenstillstandsvertrag forderte nur elf Monate nach Brest-Litowsk die sofortige Räumung der von Deutschland besetzten belgischen sowie französischen Gebiete und gleich auch von Elsaß-Lothringen, des gesamten Rheinlands, zusätzlich die Auslieferung riesiger Mengen von Waffen und Heeresmaterial sowie die "Internierung" (schließlich in einem englischen Hafen!) der deutschen Flotte. Compiègne war nur dem Namen nach ein Waffen-Stillstand. Praktisch war es Unterwerfung, verbunden mit Entwaffnung und Teilbesetzung. Vom Wunsch nach einer Wiederherstellung der kulturellen Beziehungen oder einem für beide Seiten "ehrenvollen" Frieden (Brest-Litowsk) war keine Rede.

Über die Friedensbedingungen wurde in Brest-Litowsk mehr als zwei Monate lang mündlich und schriftlich verhandelt. Erst dann verlangte der Viererbund ein Ende binnen 48 Stunden. Daraufhin unterschrieb Trotzki unter Protest – und zwar sofort.

Hingegen gab es in Versailles keine einzige Stunde, die korrekterweise als Verhandlung bezeichnet werden könnte. Die deutsche Delegation wurde hinter Stacheldraht gehalten. Nur einmal gestatteten ihr die Sieger, sich schriftlich zum Entwurf des Vertrags zu äußern. Das war alles. Es fügt sich ins Bild, daß die deutsche Stellungnahme fast wirkungslos blieb. Zudem wurde sie, wie die berühmte "Mantelnote" zeigt, mit Argumenten zurückgewiesen, die die Deutschen mitsamt ihrer Geschichte bewußt kriminalisierten.

Die gleichen essentiellen Unterschiede weisen die einzelnen Bestimmungen der beiden Friedensverträge aus. Brest-Litowsk war für das bolschewistische, vielleicht aber vor allem für das ehemalige zaristische Imperium hart: Rußland mußte Finnland, die drei baltischen Staaten, Russisch-Polen sowie die Ukraine freigeben. Doch das war immerhin mit dem auch von den Bolschewisten, von Lenin und Trotzki, proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker nahtlos zu vereinbaren. Zur Beurteilung ist wichtig, daß die Alliierten in Versailles das Reich verpflichteten, die baltischen Staaten (allerdings nicht die Ukraine) weiterhin durch Truppen zu schützen, damit diese sich festigen konnten; die Ukraine schließlich hat ihren Wunsch nach Selbständigkeit noch 1991 deutlich gemacht.

Im übrigen: So hart der Vertrag von Brest-Litowsk für das ehemals zaristische Imperium gewesen sein mag, so kriminalisierte und diskriminierte er nicht. Ebenso wichtig: Es gab keine Bestimmungen, die den Besiegten bis in fernste Zeiten fesselten; nach Durchführung des Vertrages konnte Rußland tun und lassen, was ihm beliebte. Rußland blieb souverän. Anders, grundlegend anders, Versailles. Versailles kriminalisierte, und nach Versailles war das Deutsche Reich nicht mehr souverän, nicht mehr frei in seinen Entscheidungen und nicht mehr Herr im eigenen Hause.

Die Neuerungen, die Versailles einführte, macht ein Detail deutlich, das gerade deshalb wichtig ist, weil es sachlich keine Bedeutung hat und mithin das Denken der Sieger besonders klar zeigt: Erstmalig galt bei einem internationalen Vertrag nur die Sprache einer Vertragspartei: Englisch und Französisch, die Hauptsprachen der Sieger. Der Sieger anerkannte den Besiegten nicht mehr als gleichrangig und gleichwertig.

Die militärischen Bestimmungen machten das Reich nicht nur für den Augenblick wehrlos, sondern sie zwangen ihm die Wehrlosigkeit für immer auf. Die wirtschaftlichen Bestimmungen bis hin zur Enteignung des deutschen privaten (!) Auslandsvermögens einschließlich der Bankguthaben, Patente, Warenzeichen usw. lähmten die Wirtschaftskraft und behinderten den Konkurrenten bis in die ferne Zukunft.

Ungewöhnlich bezeichnend ist die Regelung der Reparationen. Brest-Litowsk forderte nichts Derartiges. Versailles hingegen verpflichtete das Reich generell zu Reparationen. Aber nicht einmal die Gesamtzahlungen oder wenigstens die Höhe der jährlichen Zahlungen waren festgelegt; das Reich mußte einen Scheck unterschreiben, ohne zu wissen, welche Summe die Sieger zu einem ihnen genehmen späteren Zeitpunkt einsetzen würden. Das brachte wiederum neue Maßstäbe und Gebräuche in den Verkehr gesitteter Nationen. Erst der Dawes-"Plan" setzte 1924 wenigstens die Höhe der jährlichen Zahlungen fest. Doch noch immer blieb die Dauer dieser Zahlungen und damit die Gesamthöhe der Reparationen unbestimmt und dem Belieben der Sieger überlassen. Solche Bestimmungen hatte es in der jüngeren europäischen Geschichte, vielleicht in der Weltgeschichte, noch nicht gegeben. Erst der Young-Plan setzte 1929, also elf Jahre nach dem Krieg, die Gesamthöhe der Zahlungen und 1988 als letztes Zahljahr fest. Gleichzeitig endete die Kontrolle der Sieger über die deutschen Finanzen und Eisenbahnen; erst damit hatte das Reich wenigstens die finanzielle und wirtschaftliche Souveränität wiedergewonnen – von den fortdauernden Zahlungen abgesehen.

Ähnliche Charakteristika zeigt die Regelung der Kriegsverbrechen. Bei der Erörterung der den Sowjetrussen in Brest-Litowsk aufzuerlegenden Bedingungen hat das Kaiserreich nicht einmal erwogen, die Auslieferung russischer Kriegsverbrecher oder "Kriegsverbrecher" zu fordern, obwohl der russische Einbruch in Ostpreußen und Galizien 1914/15 von mancherlei sehr unliebsamen Ereignissen begleitet gewesen war. Im Gegenteil, der Witwe des bei Tannenberg 1914 geschlagenen Oberbefehlshabers der russischen 2. Armee, General Samsonow, gestattete und ermöglichte die Reichsregierung, monatelang dicht hinter den deutschen Linien nach der Leiche ihres Mannes zu suchen, und half ihr, die schließlich gefundenen sterblichen Überreste durch die Kampflinien ins heimische Rußland zu transportieren. Bei solcher, sich an altertümlichen Formen des Anstandes und der Ritterlichkeit orientierenden Denkart ist es kein Wunder, daß der führende deutsche Militär, General Erich Ludendorff, bei den Vorbereitungen für die Brest-Litowsker Verhandlungen anregte, den (nun bolschewistischen!) Russen Hilfe beim Wiederaufbau ihres Landes und eventuell ein Bündnis anzubieten. An eine Forderung nach Auslieferung von tatsächlichen oder angeblichen Kriegsverbrechern hat niemand gedacht, so gern Lenin und Trotzki wohl die zaristischen Führungseliten überstellt hätten.

Hingegen mußte sich das Reich in Versailles verpflichten, jedes Auslieferungsverlangen der Sieger zu erfüllen, ohne wenigstens zu wissen, wen und wie viele die Sieger verlangen würden. So mußte das Reich wiederum einen Blankoscheck unterschreiben. Eine erste, ausdrücklich als "vorläufig" bezeichnete Liste nannte dann 895 Personen, dabei praktisch alle Politiker und Militärs, die im Kaiserreich Rang und Namen gehabt hatten. Auch das setzte neue, vor Versailles undenkbare Maßstäbe für den Verkehr von Kulturstaaten untereinander und führte neue Gebräuche ein.

Die Internationalisierung des deutschen Luftraums, der Flüsse und Ströme sowie der vorhandenen und sogar der in Zukunft gebauten Wasserstraßen macht noch einmal deutlich: Das Reich war nach Versailles in wichtigen und weiten Bereichen kein souveräner Staat mehr und sollte es nicht mehr sein. Es war nicht mehr Herr im eigenen Haus. Wie eng das Reich durch Versailles eingeschnürt werden sollte, macht ein letzter Vergleich deutlich: Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk war mit 14 Artikeln ausgekommen; Versailles brauchte 440 (einschließlich von 26 Artikeln der Völkerbundsakte) und zusätzlich über 160 Paragraphen der Anlagen. Auch das war einzigartig.

Das alles zeigt: Versailles markiert, ebenso wie die den Verbündeten Deutschlands auferlegten Verträge, keine vernunftgeleitete Politik mehr.

Nach dem Abebben des religiösen Fanatismus und mithin des Kreuzzugsfanatismus des Mittelalters hatte sich in Europa die Einsicht herausgebildet, daß der Krieg – wenn überhaupt – ein Mittel der Politik sein muß. Gleichberechtigte Staaten kämpften um die Durchsetzung konkurrierender Interessen. Das erlaubte es, mit dem Gegner zu kämpfen, ihn aber dennoch zu achten. Clausewitz hat dieses Denken konkretisiert; das Kaiserreich hat es noch in Brest-Litowsk sogar gegenüber dem bolschewistisch gewordenen Rußland geachtet.

Mit Versailles ist Clausewitz tot, so oft er auch weiterhin zitiert wird. Der Krieg wird vom Mittel der Politik wieder zum Kreuzzug "der Christen gegen den Antichrist", zum "Heiligen Krieg", zum Kampf der "durchnagelten" (nailed) Hände Christi gegen die "gepanzerte (mailed) Faust" der Deutschen und so weiter, wie schon 1914/15 nicht etwa Demagogen aus dem intellektuellen Pöbel, sondern die höchsten englischen Kirchenführer, der Erzbischof von Canterbury als Haupt der anglikanischen Kirche und der Lordbischof von London verkündeten.

Als Clemenceau in schwerer Stunde Ministerpräsident wird, ruft er dem französischen Parlament zu: "Sie fragen, was meine Politik sei. Sie ist, Krieg zu führen. Außenpolitik? Ich führe Krieg. Innenpolitik? Ich führe Krieg. Immer. Auf jedem Gebiet. Ich führe Krieg." Allerdings: Von einem vernunftbestimmten politischen Kriegsziel fällt kein Wort. Mit dieser Attitüde reißt Clemenceau die Massen mit und gewinnt den Krieg – doch verliert er den Frieden. Kreuzzüge erlauben keine versöhnlichen, kollidierende Interessen ausgleichende Friedensschlüsse. Sie erlauben kein Brest-Litowsk, sondern nur ein Versailles.

Der erste Reichskanzler der Weimarer Republik, der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, also ein ganz unverdächtiger Zeuge, hat am 8. Mai 1919 vor dem Reichstag den Vertrag als "Dokument des Hasses und der Verblendung" bezeichnet. Am 12. Mai sprach er von einem "schauerlichen und mörderischen Hexenhammer" und urteilte, diejenige Hand müsse verdorren, die einen solchen Vertrag unterschriebe.

1935 äußerte sich Helmut Plessner – Soziologe, Philosoph und deutsch-jüdischer Hitlerflüchtling –, der die Deutschen als "verspätete" Nation kritisiert hat, weil sie sich den Werten der westlichen Wertegemeinschaft zu spät geöffnet hätten. Sogar dieser wahrlich unverdächtige Zeuge urteilte, mehrere Faktoren, dabei die hetzerische Kriegspropaganda der Alliierten sowie Versailles, hätten "die Begriffe von Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Fortschritt und Weltfrieden, mit einem Wort das Wertesystem des politischen Humanismus westlicher Prägung, bodenlos entwertet." "Bodenlos" entwertet!

 

Dr. Franz Uhle-Wettler, Generalleutnant a.D, war Kommandeur einer Panzerdivision der Bundeswehr und bis 1987 an der Nato-Akademie in Rom. Bei seinem Text handelt es sich um das leicht gekürzte Vorwort zu dem Buch "Das Versailler Diktat", das kürzlich im Arndt-Verlag, Kiel, erschienen ist.


 
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