© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/99 18. Juni 1999


Kolumne
Denkzettel
von Heinrich Lummer

Gott sei Dank ist die Beteiligung an der Wahl zum Europaparlament kein Barometer für die politische Reife der Bürger. Aber die geringe Wahlbeteiligung ist ein Zeichen für die Geringschätzung dieses Parlamentes und für die Entfernung der Bürger von der europäischen Institution und Administration.

Nur einmal in seiner Geschichte hat das EU-Parlament eine wirksame Rolle gespielt: bei der Liquidation der letzten Kommission. Aber auch da hatte es trotz erkennbarer Korruption Eiertänze gegeben. Ausschlaggebend war schließlich der Bericht einer Untersuchungskommission.

Dieses Parlament ist bei den Bürgern und Wählern nicht angekommen – geschweige denn angenommen. Das liegt nicht vor allem an den Bürgern, sondern an der Art und Weise, wie Europa gemacht wird und wie es funktioniert. Gute Noten kann es da nicht geben. Auch erfolgten die Wahlen – nicht nur in Deutschland – unter nationalen Vorzeichen und mit nationalen Themen.

Die CDU/CSU wollte den Denkzettel für Rot-Grün. Die FDP auch. Rot-Grün wollte die Bestätigung seiner Bonner Politik. So gibt es zunächst einmal und vor allem einen Verlierer der Wahl: Europa. Das EU-Parlament wird von den Wählern nicht ernst genommen. Es kam viel zu früh, ist immer noch viel zu teuer und hat immer noch nicht die Kompetenzen eines normalen Parlaments. Dies wird auf absehbare Zeit so bleiben. Und das ist gut so. Und doch gibt es in Brüssel nun eine andere Mehrheit: Gut so.

Die geringe Wahlbeteiligung bleibt ein Fall zum Nachdenken. Mit wenig Wählern mußte man rechnen. Weniger als die Hälfte ist ungewöhnlich. Wem kam nun die geringe Beteiligung zu gute? Oder verteilen sich die Nichtwähler proportional auf die teilnehmenden Parteien? Wohl kaum.

Eine höhere Wahlbeteiligung hätte den Einzug der PDS nach Brüssel verhindern können. Schade. Hier bewahrheitet sich jene Erfahrung, wonach auch der Nichtwähler eine wirksame Stimme hat. Wie sagte doch Thomas Jefferson: Schlechte Kandidaten werden von guten Bürgern gewählt, die nicht zur Wahl gehen. Die Stimmen der Nichtwähler kommen jenen Parteien zugute, deren Wähler konsequent zur Wahl gehen. Das sind in der Regel die Wähler radikaler und extremer Parteien. So entscheiden die Nichtwähler oft zugunsten derjenigen, die sie gar nicht wollen. Schade, daß Deutschland nun mit einer Partei von vorgestern in Brüssel vertreten ist. Dem unbekannten Nichtwähler sei’s geklagt. Auch die, die Denkzettel verteilen wollten, haben manchmal Anlaß nachzudenken.

 

Heinrich Lummer, Berliner Bürgermeister und Innensenator a.D., war bis 1998 CDU-Bundestagsabgeordneter.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen