© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


Kino: Der Cyberthriller "Matrix" führt zur Wahrheitsfindung im religiösen Ambiente
Menschen zu Tamagotchis
Manuel Ochsenreiter

Seit "Akte X" und "Millennium" weiß auch der Letzte "Die Wahrheit ist irgendwo da draußen!" Je näher die Jahrtausendwende rückt, desto sicherer ist man sich über geheime Mächte, finstere Mechanismen und düstere Schurken, die die Menscheit manipulieren. Ob in Gestalt von glibbrigen Aliens oder von mächtigen Geheimbünden aus schwarztragenden Männern. Und so wundert es nicht, daß auch das Kino sich plötzlich mit auf der kollektiven Wahrheitsfindung beschäftigt. Zum Beispiel mit den glatzköpfigen Nosferat-Typen, die in Alex Proyas' "Dark City" eine ganze Stadt als Versuchsanordnung vor sich hinvegetieren lassen und immer wieder Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen, um zu testen, ob es etwas wie eine individuelle Persönlichkeit gibt.

In "Matrix" wird das Genre noch durch ein fast religiöses Ambiente bereichert. Passend zur Hysterie um das Datum 2000 ist in dem Film der Wachowski-Brüder die Rede vom "Erlöser" und vom "Messias", es werden Orakel befragt, und Menschensöhne opfern sich für die Erlösung.

Die Geschichte spielt in der vermeintlichen Gegenwart. Programmierer Thomas Anderson (Keanu Reeves), genannt Neo, arbeitet für einen Software-Multi. Seine Nächte jedoch verbringt er als Hacker am Computer und handelt mit Cyberspace-CDs. Dort erfährt er über dunkle Kanäle von einem mysteriösen Programm namens "Matrix", und damit beginnt das Ganze. Eine Art Cyber-Johannes-der-Täufer, Morpheus (Laurence Fishburne) nimmt Kontakt zu Neo auf und erklärt ihm die Welt neu: Es ist alles nur eine vorgegaukelte Computersimulation, in der die Menschen als willenlose Sklaven gehalten werden. Tatsächlich befinden wir uns 200 Jahre in der Zukunft, längst haben intelligente Maschinen die Macht auf der Erde übernommen und alles in eine karge Wüste verwandelt. Die Energie, die sie brauchen ziehen sie aus den Menschen, die sie in gigantischen Brut- und Zuchtstationen halten. Ihr geistiges Leben findet mittels elektrischer Impulse der Maschinen statt, die ihnen eine völlig normale Welt vorspielen. Rebellenchef Morpheus fährt mit seinem Raumschiff "Nebukadnezar" durch die uralten Kanäle und bekämpft die Matrix und ihre Schergen. Morpheus hält Neo für den kommenden Weltenretter, den Messias, und führt ihn in die Geheimnisse der andersartigen Welt ein, denn dort sind die physikalischen Gesetze manipulierbar. Dies gibt mitunter technisch rasante Kampfszenen mit den hochgerüsteten Aufsehern der Matrix. Schließlich kommt sogar ein Judas ins Spiel. Cypher (Joe Pantoliano), einer der Rebellen, hält dem ständigen Verfolgungsdruck nicht mehr stand und bietet den Verrat an, wenn er wieder friedlich in die Matrix-Welt eintauchen darf. Doch am Ende des rasanten Spektakels wird der erschossene Neo sogar noch durch einen Dornrößchen-Kuß wieder zurück ins Leben geholt, und er kann seine Mission erfüllen.

Diese eigenartige Mischung aus Ballerei, Verfolgung, mythischem Erlöserglauben und Märchenmotiven ist sicherlich nicht jedermanns Sache, aber trotzdem oder gerade deswegen für den Zuschauer faszinierend. Keanu Reeves hält sich als Messias erstaunlich gut, durfte er doch gerade erst im vorigen Jahr in dem Streifen "Im Auftrag des Teufels" den Sohn des Beelzebubs spielen – mit mäßigem Erfolg.

Daß die Themen vieler neuer Produktionen immer mehr um Fremdbestimmung der Menschen kreisen, ist wenig verwunderlich, sind "richtige" Feinde doch seit dem Zusammenbruch des Ostblocks passé. Und ein Angora-Katzen-kraulender Gerd Fröbe wird heute ohnehin nur noch als netter Onkel gesehen und nicht als diabolischer Bösewicht.

Und bei zunehmender Undurchschaubarkeit und Unerklärlichkeit der sozialen und politischen Vorgänge bieten sich ohnehin Erklärungsmuster an, in denen geheimnisvolle Mächte bemüht werden. "Matrix" jedenfalls dürfte eines der abenteuerlichsten Angebote sein. Aber der rasante Fortschritt, gerade in der Computertechnologie, die Erschaffung virtueller Räume, die mittlerweile immer perfekter werden, lassen wohl in naher Zukunft Illusionen von großem Format durchaus möglich werden. Und ob wir tatsächlich in 200 Jahren als Tamagotchis gezüchtet werden, können wohl gegenwärtig nur die Special Agents Scully und Mulder von "Akte X" klären, denn sie wissen: "Die Wahrheit ist irgendwo da draußen!"


 
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