© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


Weshalb Deutschland nicht alles verlor
Das Diktat schlug fehl
von Lothar Höbelt

Versailles ist an allem schuld. Oder präziser gesagt: seine Vorgeschichte. Der Erste Weltkrieg war die Ur-Katastrophe dieses Jahrhunderts. Weil er so lange dauerte. Ein schneller Sieg der einen oder anderen Seite wäre da auf alle Fälle besser gewesen. Schnell siegen konnte aber nur eine Seite: Wir nämlich. Der Einzug des Kaisers über die Champs Elysees, bevor noch die Blätter fielen, hätte viele Karrieren zerstört: Der Gefreite Hitler wäre nie in die Verlegenheit gekommen, dem Marschall die Hand zu schütteln, Stalin zeigte – eine entsprechende Partnerin vorausgesetzt – immerhin vielversprechende Ansätze zu einem östlichen Gegenstück zu Bonnie & Clyde, die europäische Sozialdemokratie würde Benito Mussolini vermutlich immer noch als einen der Ihren feiern. Wenn es schon Krieg gab, dann war der deutsche Sieg also die Optimal-Variante. 1914 zumindest.

Deutschland hat den Krieg gewonnen

Diese Ansicht gilt in England oder Amerika heute nicht einmal mehr als besonders ketzerisch. 1918 sah man die Dinge freilich anders: man war sich bewußt, wie nahe die Deutschen einem Sieg gekommen waren. Ohne die USA wären sie ja kaum niederzuringen gewesen. Auf die USA war aber kein Verlaß. Also mußte Deutschland geschwächt werden, damit "so etwas", nämlich die deutsche Beinahe-Hegemonie auf dem Kontinent, nicht wieder passierte. Ganz abgesehen davon, daß es in europäischen Kriegen schließlich Tradition war, dem Verlierer irgendwo ein paar Provinzen abzuzwacken. Da mochten Demokraten und Anhänger der Volkssouveranität freilich geltend machen, daß sich seit den Tagen Kaunitz und Metternichs einiges geändert hatte. Aber diese Spezies von Politikern war unter den atlantischen Friedensstiftern nur recht oberflächlich vertreten. Die 14 Punkte des US-Präsidenten Wilson galten als extravagant, wo doch selbst der Allmächtige mit zehn das Auslangen gefunden hatte, und allmächtig waren die USA damals bei weitem noch nicht und ihr Präsident stets noch viel weniger.

In diesem Sinne ging man vor achtzig Jahren ans Werk. Man verteilte um auf der europäischen Landkarte. (Auch auf der außereuropäischen selbstverständlich, aber da konnte Deutschland wohl von Glück sagen, daß es seine Kolonien einbüßte, die ebenso prestige- wie defizitträchtig waren.) Das Resultat wirkte auf die Deutschen auf den ersten Blick so deprimierend, daß sie gar keinen zweiten riskierten. Und das war schade, denn sonst hätten mehr von ihnen festgestellt, daß Versailles an ihrem Sieg nicht viel änderte, sondern bloß so tat, als ob. Sie haben richtig gelesen: An ihrem Sieg. Denn der Krieg, der 1914 ausbrach, den hatte Deutschland 1917 gewonnen, obwohl es das nicht für möglich gehalten hätte, den Zweifrontenkrieg in Europa nämlich, auch wenn das nach einer unerwarteten Richtung hin geschah. Nicht Frankreich, wie es das Drehbuch schrieb, sondern Rußland war es, das 1917 kollabierte, damals tatsächlich "geschwächt und nicht mehr kampffähig" war.

Rußland aber war der Grund gewesen, warum man einen Krieg überhaupt für nötig gehalten hatte: Denn wenn Rußland erst seine Eisenbahnen fertiggebaut hätte (mit französischem Geld), dann könne Deutschland einen Zweifrontenkrieg nicht mehr durchstehen, sagten die Planspiele der guten alten Zeit. Frankreich war eine absteigende Macht im europäischenKonzert, Rußland eine aufsteigende – mit den höchsten industriellen Wachstumsraten aller europäischen Mächte vor 1914. Diesen langfristig viel gefährlicheren Gegner geschlagen zu haben, war sehr viel mehr wert als der Verlust Elsaß-Lothringens im Westen. (Die Schwerindustrie beiderseits der Grenzen fand so und so zu ihrem Kartell.) In diesem Punkt hatten Kaiser Karl und sein Außenminister Czernin zweifellos recht, die ihren Verbündeten 1917 rieten, im Westen einen Fußbreit nachzugeben, um dafür im Osten nach Herzenslust zu expandieren. (Die Österreicher waren sich da nur nicht ganz sicher, ob sie lieber Polen oder Rumänien einstecken wollten.)

Dieser Sieg über Rußland, festgeschrieben im Diktat von Brest-Litowsk 1918, wurde vom Versailler Diktat nicht tangiert. Rußland verlor im und durch den Ersten Weltkrieg in Europa über 800.000 Quadratkilometer und weit über 20 Millionen seiner Bevölkerung (und das in seinen wohlhabendsten Regionen); Deutschland 70.000 Quadratkilometer und sechs Millionen. Jetzt ließe sich noch argumentieren, daß der eigentliche geo-strategische Verlust Deutschlands im Untergang seiner beiden Verbündeten bestand, des habsburgischen und des osmanischen Großreiches. Das war nicht ganz von der Hand zu weisen. Entscheidend aber war, daß sich in dem Vakuum, das zwischen dem Bodensee und dem Dnjepr entstanden war, keine andere Großmacht festzusetzen vermochte. Der Raum wurde vielmehr durch die wechselseitigen Rivalitäten der Nachfolgestaaten de facto neutralisiert. Der Machtzuwachs Italiens verstärkte bloß seine Rivalität mit Frankreich und bedeutete keine Gefahr.

Als ein Geschenk des Himmels, an dem man freilich nicht ganz unbeteiligt war, erwies sich die bolschewistische Revolution, dieselbe, die dem mitteleuropäischen Bourgeois nicht ganz zu Unrecht die Nachkriegswelt erst recht in düsteren (oder besser: in blutroten) Farben erscheinen ließ. Erstens verwickelte sie den Rivalen in einen verlustreichen Bürgerkrieg. Dann aber und vor allem zerbrach am Putsch Lenins das russisch-französische Bündnis. So hatte Deutschland zwar Österreich-Ungarn eingebüßt, Frankreich aber Rußland. Wer da besser abgeschnitten hatte, war wohl nicht zweifelhaft. Die Verbündeten Frankreichs in Ost-Mittel-Europa, sein Cordon sanitaire, hatten im Zweifelsfall immer noch mehr Angst vor Rußland als vor Deutschland. Das galt vor allem für Polen, für das sein ex-österreichischer Ersatz-Bonaparte Pilsudski die Devise prägte: "Oczy na wschod" – Augen ostwärts.

Die strategische Ausgangslage Deutschlands hatte sich also gegenüber 1914 deutlich verbessert, nicht verschlechtert. Es blieb die Entmilitarisierung: Doch das machte im Zeitalter der technisierten Kriege weniger aus als eine Generation früher. Im Ernstfall erwies sich der Ausfall an gedienten Jahrgängen als relativ leicht zu bewältigen. Blieben die Reparationen. Die vergifteten freilich das Klima, denn beim Geld hört die Gemütlichkeit auf. Aber auch da lief es nicht nach Wunsch der Sieger, wie ihnen die Ökonomen (darunter Keynes) schon sehr bald vorausgesagt hatten. Denn da gab es das Transferproblem. Wenn die Deutschen wirklich alles zahlen sollten, mußten sie es vorher auch verdienen. Sprich: Um den alliierten Steuerzahler zu entlasten, mußte man ihnen vorher erlauben, den alliierten Steuerträger niederzukonkurrenzieren. Aus dem Dilemma gab es keinen Ausweg, es sei denn, man tat ein weiteres Mal so als ob. Man lebte allenthalben auf Pump. Für die europäische Prosperität und für die europäische Zusammenarbeit waren das keine günstigen Vorzeichen. Von der roten Gefahr im Osten bis zur Reparationsfrage und dem Schuldenkarussell, das sich daraus entwickelte, hatte der Bürger allen Grund, skeptisch in die Zukunft zu blicken. Für Deutschland als Großmacht galt das nicht. Dem Bourgeois, der eben seine Ersparnisse in der Inflation verloren hatte, wurde Weimar als Chance präsentiert, dem Deutschen Reich hingegen Versailles als Schmach und Schande. Der rheinische Bourgeois Marx hat derlei "Perzeptionen" als falsches Bewußtsein abqualifiziert. Menschlich verständlich zweifelsohne, falsch nichtsdestotrotz.

Alliierte hätten Moskau schwächen müssen

Versailles war ungerecht, denn es war zweifelsohne inkonsequent, sich auf das Selbstbestimmungsrecht zu berufen und drei Millionen Sudetendeutsche in die CSR zu pressen. Aber Clemenceau hatte sich daraufhin ohnehin nie berufen und – seien wir ehrlich – Kaiser Franz Joseph und Ludendorff genausowenig. Die Sieger wurden bloß dem Gesumse ihrer amerikanischen Verbündeten nicht gerecht, dem Ethos der Vorkriegsjahre – und die reichten weit in die alteuropäische Vergangenheit zurück – sehr wohl. Unverzeihlich war hingegen, daß sie gegen das Gleichgewichtsprinzip verstoßen hatten. Wenn einem Deutschland zu stark war, mußte man Rußland stärken – und umgekehrt. 1945 tat man das dann auch. Deshalb war Jalta viel stabiler als Versailles (und viel ungerechter, aber darauf kam es beim zweiten Mal genausowenig an wie beim ersten). So zu tun, als gäbe es die beiden großen Kontinentalmächte einfach nicht, bloß weil sie einem unsympathisch waren, war Vogel-Strauß-Politik. Wenn man glaubte, den Raum zwischen den Ardennen und der Wüste Gobi mit der polnischen Kavallerie und ein paar französischen Militärberatern hinreichend unter Kontrolle zu haben, dann war einem selbst dann nicht mehr zu helfen, wenn sich unter den letzteren de Gaulle befand. Der Klügste unter den französischen Militärs, Petain, sah das auch ein und ließ deshalb die Maginot-Linie bauen. Deutlicher konnte man es nicht zeigen, daß Frankreich Osteuropa verloren gab. Hitler brauchte nur noch einsammeln zu gehen.

 

Prof. Dr. Lothar Höbelt, Jahrgang 1956, ist Inhaber eines Lehrstuhles für Zeitgeschichte an der Universität Wien und Autor u. a. von "1848 – Österreich und die deutsche Revolution" (1998).


 
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