© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


Ein Gespräch mit dem Historiker Wolfgang Venohr über die Linke, Versailles und die Nation
"Sie wollten die Einheit retten"
von Dieter Stein

Herr Dr. Venohr, weder die Dolchstoßlegende noch das Bild von den vaterlandslosen Gesellen trifft auf die deutsche Linke nach dem Ersten Weltrkieg zu. Wie stellt sich das Bild angesichts des heraufziehenden Versailler Gewaltfriedens wirklich dar?

Venohr: Zunächst muß man zwischen der Dolchstoßlegende und dem Gerede von den vaterlandslosen Gesellen trennen. Die Dolchstoßlegende bezieht sich ja auf den 9. November 1918; als ob hier dem deutschen Feldheer ein Dolch von hinten in den Rücken gestoßen worden wäre. Schon das ist absoluter Unsinn. Wenn wir aber nun von Versailles reden, dann ist es völlig unhaltbar, von vaterlandslosen Gesellen auf der Linken zu sprechen! Als im Mai 1919 die Bestimmungen des Versailler Diktates in Deutschland bekannt wurden, gab es spontane Massendemonstrationen in allen großen deutschen Städten, wo alles von rechts bis links zusammenlief, die Fäuste schüttelte und sich empörte. Die Linke lehnte sich genauso wie die Rechte gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages auf.

Wen meinen Sie, wenn Sie von "der Linken" sprechen?

Venohr: Ich meine damit explizit die Sozialdemokratie. Es geht in der Zeit von 1919 um die SPD, die zunächst einhellig gegen die Vertragsunterzeichnung war, und die kleine USPD, die hin und her schwankte und nicht sicher war, wie sie sich verhalten soll. Doch auch die USPD war letzten Endes gegen Versailles. Ein Teil der USPD weigerte sich, den Vertrag zu unterschreiben, "der das deutsche Proletariat zu Sklaven des westlichen Kapitalismus" machen würde. Ein anderer Teil mit Haase und Kautsky glaubte, "daß die Unterzeichnung ohne Wichtigkeit ist, da die kommende Weltrevolution ja doch nur einen Papierfetzen mehr daraus machen wird". Insgesamt kann man sagen: Die Ablehnung und Empörung über Versailles war auf der Linken ebenso groß wie auf der Rechten. Ich zitiere den SPD-Reichskanzler Philipp Scheidemann, der am 8. Mai 1919 den Versailler Vertrag als "Dokument des Hasses und der Verblendung" bezeichnet hat.

Haben Teile der Linken nicht auch einen Verzweiflungskampf gegen den "imperialistisch-kapitalistischen Westen" gefordert?

Venohr: Ende 1919 und Anfang 1920 wurde dies expressis verbis von den Hamburger Nationalkommunisten so ausgedrückt, "einen revolutionären Volkskrieg gegen die Entente" führen zu wollen. Bei der Sozialdemokratie kann man so weit nicht gehen, doch es gab Männer wie den preußischen Kriegsminister Robert Reinhardt oder August Winnig in Ostpreußen, Gustav Noske, Friedrich Stampfer, Paul Löbe, die ernsthaft überlegten, ob man die Unterschrift unter ein solches menschenverachtendes Diktat verweigern soll, um einen Volkskrieg zu führen. Da man kaum noch Waffen hatte, wußte man, daß das nicht gut ausgehen konnte.

Die Alliierten hätten dann Deutschland gänzlich besetzt.

Venohr: Der Plan war, sich bis zur Elbe zurückzuziehen, um das Reich zwar preiszugeben, aber wenigstens das ostelbische Preußen auf diese Weise zu retten. Die Mehrheit entschied sich aus patriotischen Gründen, um die Einheit Deutschlands, um das Reich zu retten, schließlich unter Protest für die Unterzeichnung dieses Vertrages.

Es gab keine Alternative zur Unterzeichnung dieses Vertrages?

Venohr: Ich glaube nein. Clemenceau und die Alliierten warteten nur darauf, über den Rhein marschieren zu können. Man kann sich denken, was dann passiert wäre: Genau wie 1945 wäre Deutschland aufgeteilt worden.

Wurde der Widerstand gegen Versailles dann zum Grundkonsens der Weimarer Republik?

Venohr: Bis 1920 war dies tatsächlich der Grundkonsens aller Deutschen. Im Verlaufe der Weimarer Republik differenzierte sich dann jedoch die Einstellung der einzelnen Menschen und Parteien zum Versailler Diktat. Während die Rechten – insbesondere die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler – bis zum Tage ihrer Machtergreifung den Kampf gegen das Versailler Diktat neben dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit als Hauptziel auf ihr Panier geschrieben haben, schwächte er sich bei der SPD doch gewaltig ab. Die KPD, die verbal immer bis Ende 1932 gegen Versailles war, machte ihre patriotische Haltung selbst zunichte durch taktische Spielereien.

Warum wird der Widerstand gegen Versailles pauschal mit der Rechten identifiziert und die Linke vergessen?

Venohr: Das ist mir unbegreiflich, denn die Linke hätte allen Grund, sich deswegen feiern zu lassen, wie sie sich 1919 verhalten hat – an der Spitze Philipp Scheidemann oder Friedrich Ebert, die sich patriotisch positionierten –, so wie sie auch hätte stolz darauf sein können, daß sie 1914 ohne zu zögern zur Vaterlandsverteidigung aufgerufen hat. Warum nun also heute in der öffentlichen Diskussion der Kampf gegen Versailles, der ja ein Ehrentitel sein müßte, umgedreht wird zu einer Sache, die nur von der Rechten betrieben wurde, ist mir rätselhaft. Die Linken schießen sich damit selbst ins Knie.

Welche Passagen des Versailler Diktates sind denn entscheidend für die empfundene kollektive Kränkung? Welche Passagen sollten denn überhaupt im wesentlichen einer Revision unterzogen werden?

Venohr: Man sollte die Lage vergleichen mit den Franzosen, wie die reagiert haben auf den Verlust von Elsaß-Lothringen von 1871 bis 1914. Da kann man nur staunen über die Reaktionen des deutschen Volkes. Der Kampf gegen Versailles und seine Revision wurde von 1920 bis 1932 nicht verstanden als Forderung nach territorialer Rückgewinnung oder Rückeroberung, denn niemand in Deutschland wollte den Krieg. Es sprach niemand ernsthaft von der Rückgewinnung Elsaß-Lothringens, es sprach niemand von der Rückgewinnung Eupen-Malmedys, es sprach niemand von der Rückgewinnung Nord-Schleswigs; niemand von den beiden großen Provinzen Posen und Westpreußen, die im Osten ohne Volksabstimmung zum größten Teil an Polen abgetreten werden mußten. Es wurden keine entsprechenden Forderungen erhoben, selbst nicht in den Versammlungen und Kampfblättern der NSDAP! Hitler hat ja später sogar zum Entsetzen seiner Parteigenossen auf Südtirol verzichtet. Er wird sich sogar in den Jahren 1933–39 als der größte deutsche Verzichtspolitiker erweisen. Er verzichtete ja auf Elsaß-Lothringen, Eupen-Malmedy, Nord-Schleswig. Auf Posen und Westpreußen verzichtete er durch Abschluß eines Vertrages mit Polen 1934. Es mag unter den Generälen welche gegeben haben, die davon träumten, daß die alten preußischen Provinzen zu Deutschland zurückkehren. Dies spielte aber keine Rolle in der öffentlichen Meinung.

Nein, was die große Empörung unter den Deutschen ausgelöst hatte, waren zwei Dinge: Erstens die furchtbare Beleidigung und Demütigung durch den Kriegsschuldartikel, nämlich daß Deutschland die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges trägt. Die Massen wußten, daß das nicht stimmte. Zweitens die unendlichen finanziellen und materiellen Einschnitte in das Fleisch des deutschen Volkskörpers durch die Reparationen, die später bis zum Geht-nicht-Mehr weitergetrieben wurden. Diese beiden Punkte sind es gewesen, die den Volkszorn ausgelöst haben.

Kann man sagen, daß am 28. Juni 1919 das Todesurteil der Weimarer Republik gefällt wurde?

Venohr: Das trifft ohne weiteres zu. Man kann nicht erwarten, daß ein Baby wächst und sich prächtig entfaltet, wenn man ihm bereits in der Wiege die Luft abdrückt. Die Weimarer Republik, die von der Rechten – nicht von der Linken! – die "Versailler Republik" genannt wurde, war durch das Diktat der westlichen Alliierten so belastet, daß man staunt, daß sie überhaupt 13 Jahre existiert hat.

Nun meinen manche Historiker, die Weimarer Republik sei mangels ausreichendem Demokratiebewußtsein der Deutschen zugrunde gegangen.

Venohr: An der Spitze der Weimarer Republik standen schließlich nicht Rechte, Konservative oder Nationalisten bis in die dreißiger Jahre, sondern Demokraten der Linken und der Mitte! Ein aufrechter Demokrat, dessen Gesinnung noch nie und von keiner Seite in Frage gestellt worden ist und der damals schon im Reichstag saß, war der erste Bundespräsident Theodor Heuß, der mal sagte, die Hauptstadt der Hitler-Bewegung war nicht München, sondern Versailles. Er hat damit richtig ausgedrückt: Versailles hat den "Racheengel" Adolf Hitler geboren.

Kann man den Erfolg Hitlers wirklich so stark mit Versailles verbinden?

Venohr: Ich glaube sogar sehr stark. 1982 habe ich für das deutsche Fernsehen eine Befragung von 600 Leuten machen müssen, warum sie 1932/33 Adolf Hitler gewählt hatten. Die Antwort war ganz eindeutig: Der erste Punkt in der Argumentationskette war die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sofort der zweite Punkt waren die Kränkungen und Beleidigungen des Versailler Diktats. Danach erst kamen alle anderen Gründe.

Wurde Demokratie nicht als Synonym des Versailler Diktates gesehen und damit die demokratische Idee völlig diskreditiert?

Venohr: Die Kommunisten machten aus ihrer Verachtung für die Demokratie keinen Hehl und konnten ohne weiteres mit den Nationalsozialisten konkurrieren. Bei den Sozialdemokraten war das etwas komplizierter: Das Bekenntnis zur Demokratie spielte eine ganz große Rolle in ihrer Politik der zwanziger Jahre, wo sie so wenig Biß gegenüber den Westalliierten zeigten. Das ist ja auch von einem der ihren, einem der Prominentesten, scharf kritisiert worden: Julius Leber, der spätere Freund Stauffenbergs, schrieb 1934 in KZ-Haft die schärfste Kritik an seiner Partei, der SPD, nieder. Sie habe das westliche Demokratiemodell blind übernommen, "ohne zu sehen, daß auch deren inneres Wesen der äußeren Form schon lange nicht mehr entsprach". Er warf darüber hinaus dem Marxismus wie dem Liberalismus vor, dem Volk Doktrinen angeboten zu haben "wie vergoldete Weihnachtsnüsse" und daß sie die tiefverwurzelten Gefühlsbindungen der Menschen an Heimat, Volk und Vaterland sträflich unterschätzt oder gar bekämpft, insbesondere den Kampf gegen Versailles vernachlässigt haben.

Was werfen Sie der SPD also vor?

Venohr: In ihrem Bestreben, keinen deutschen Sonderweg zu gehen, sondern den westlichen Demokratien immer näher zu kommen, hat sie den Fehler gemacht, Demokratie und Nation voneinander zu trennen. Das geht nicht. Wenn ich ein guter Demokrat sein will, dann muß ich vor allem zuerst ein guter Patriot sein. Nation und Demokratie sind zwei Seiten einer Medaille!

Warum ist es nun den Kommunisten nicht stärker gelungen, den Widerstand des Volkes gegen Versailles als Diktat des kapitalistischen Westens zu organisieren?

Venohr: Die Kommunisten, die als Partei erst im Dezember 1918 auftraten, hervorgehend aus dem Spartakusbund, machten von Anfang an scharf Front gegen Versailles. Ihre Parole hieß: "Nieder mit dem Frieden von Versailles, es lebe die kommunistische Revolution!" Sie waren da völlig identisch und einer Meinung mit dem großen Vorbild Lenin, der sich in vernichtender Weise über den Vertrag von Versailles geäußert hat. Die KPD unterstützte deshalb auch den Ruhrkampf der nationalistischen Offiziere und Soldaten, wie zum Beispiel Albert Leo Schlageter, gegen die französischen Imperialisten und Interventionisten.

Die Männer des 20. Juli beriefen sich auf Versailles

Schon 1920 war aber ein Buch von Lenin mit dem Titel "Der ’linke Radikalismus’, die Kinderkrankeit im Kommunismus" erschienen. Hier hatte er gegen die Nationalkommunisten Stellung genommen, die vor allem in Hamburg konzentriert waren, und hatte geschrieben, nun mal langsam, nicht immer den Kampf gegen Versailles an die Spitze des Programmes stellen. Das hatte schon Eindruck gemacht auf die KPD-Führung.

Was ist mit dem "nationalen Kurs" der KPD Anfang der 30er Jahre?

Venohr: Immerhin muß man der Gerechtigkeit halber sagen, daß die Kommunisten einen regelrechten Eklat auslösten, als sie am 24. August 1930 einen völlig neuen Ton in die Debatte einführten. An diesem Tag veröffentlichte die KPD in ihrem Zentralorgan, der Roten Fahne, ein "Programm zur sozialen und nationalen Befreiung des deutschen Volkes". Darin heißt es – man höre und staune, lange vor Adolf Hitler – "wir erklären feierlich, daß wir im Falle unserer Machtergreifung alle sich aus dem Versailler Frieden ergebenden Verpflichtungen für null und nichtig erklären werden". Die Kommunisten haben damit aber keinen Eindruck gemacht, denn ihr Programm erschien drei Wochen vor der Reichstagswahl vom 14. September 1930, wo die Nationalsozialisten ihren spektakulären Sieg errangen und ihre Fraktion von zwölf auf 107 Reichstagsmandate steigerten.

Warum mißtrauten die Menschen den Kommunisten derart?

Venohr: Sie durchschauten, daß die KPD dieses Programm als wahltaktisches Manöver initiierte. Es gelang der KPD nicht, das Zweideutige und Taktierende in ihrer Haltung aufzuklären! Sie haben das noch verstärkt, als im November 1932 die Sowjetunion mit Frankreich einen Nichtangriffspakt schloß mit allerlei militärischen Klauseln, die sich gegen das Deutsche Reich richteten. Da hätte es bei der KPD einen Aufschrei geben müssen! Dieser Pakt war insofern eine Sensation, als die UdSSR nun begann, sich aus der Anti-Versailles-Front zu lösen und zu dem Versailler System, das sie selbst immer bekämpft hatte, langsam überzugehen. Der Nationalrevolutionär Ernst Niekisch hat darauf aufmerksam gemacht in seiner Zeitschrift Widerstand. Von der KPD kam aber kein Wort dazu. Mit anderen Worten: Die KPD ist in diesem Punkt, in der nationalen Frage, wie auch die spätere SED nie glaubwürdig gewesen.

Womit ist diese Servilität der deutschen Kommunisten gegenüber Moskau zu erklären? Warum haben sich die deutschen Kommunisten nicht an die Spitze der kommunistischen Bewegung gestellt und sich über Moskauer Stellungnahmen hinweggesetzt?

Venohr: Das kann kein Mensch erklären. Man darf nicht vergessen, daß die Sozialdemokratie – die Kommunisten gab es vor 1918 noch nicht – die größte, mächtigste und berühmteste Arbeiterpartei der Welt war, die Lenin schrankenlos bewundert hat. Immer hat er auf Berlin, immer hat er auf Deutschland, immer hat er zur Sozialdemokratie geschaut. Von ihr erwartete er die Weltrevolution, nicht vom rückständigen Rußland. Dann kommt 1918, der Waffenstillstand und der Diktatfriede von Versailles, und die Sowjetunion, die noch überhaupt nicht in sich gefestigt ist, die noch jahrelang von Bürgerkriegen zerfleischt wird, wird zum Vorbild der deutschen Kommunisten. Von einem bestimmten Zeitpunkt, von 1924 an, wird die KPD zu einer direkten Satellitenpartei des Kreml, der Moskauer Zentrale. An den Russen lag das nicht, es lag an den deutschen Kommunisten! Sie hatten es nicht nötig, aber taten es.

Womit erklären Sie sich das?

Venohr: Mit dem deutschen Nationalcharakter?

Auch den späteren Widerstand gegen Hitler verband die Haltung zu Versailles.

Venohr: Richtig. Stauffenberg, der hocharistokratische Graf, und Julius Leber, der Sohn eines elsässischen Tagelöhners, fanden sich in ihrer Gegnerschaft zu Versailles. Dies schlug sich auch in den geplanten Befehlen an die deutsche Wehrmacht nieder, die die Verschwörer des 20. Juli 1944 für den Fall ihrer Machtübernahme vorbereiteten. Auch nach 1945 gab es einen Mann, der in öffentlichen Reden die Wiederherstellung des Deutschen Reiches forderte, nämlich den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher. Mit Schumacher hätte kein Mensch ein versöhnliches Wort über Versailles sprechen können.

Sahen die Soldaten der Wehrmacht den Krieg durch Versailles gerechtfertigt?

Venohr: Der Aufruf der Verschwörer des 20. Juli an die Wehrmacht beginnt mit den Worten: "Der gute Glaube der deutschen Soldaten an einen gerechten Krieg zur Wiedergutmachung des Deutschland in Versailles angetanen Unrechts" sei von Hitler mißbraucht worden durch die Besetzung und Unterdrückung anderer Völker und Länder. Nicht von ungefähr beginnt dieser Aufruf mit der Erinnerung an Versailles.

War die Zustimmung zur Politik Hitlers deshalb auch so groß, weil er Versailles revidierte?

Venohr: Man erinnere sich an das große Rededuell im März 1933 im Reichstag zwischen Hitler und Otto Wels von der SPD. Otto Wels erklärt sich da zu Beginn seiner Rede ausdrücklich einverstanden mit dem außenpolitischen Programm der neuen Reichsregierung! Dieses außenpolitische Programm der neuen Reichsregierung verlangte die Gleichberechtigung Deutschlands. Das hieß: Revision von Versailles. Hitler rief Wels in seiner Erwiderung – zynisch, aber mit einer gewissen Berechtigung – zu: "Spät kommt ihr, doch ihr kommt!" Er hätte viel schärfer formulieren können: "Spät kommt ihr, doch zu spät!" Die SPD, die KPD, die ganze deutsche Linke hatte versäumt, entschlossen den Kampf gegen Versailles zu proklamieren. Nun kam Hitler, und er war Reichskanzler geworden und forderte die Gleichberechtigung Deutschlands mit allen anderen. Darunter verstand jedermann und auch Otto Wels, daß es mit der Unterdrückung durch das Versailler Diktat ein Ende hat. Ich glaube schon, daß dies ein Grund war, daß die deutsche Arbeiterschaft nach einigem Zögern massenhaft zu Hitler übergelaufen ist. Der wichtigste Grund war aber natürlich die Politik der Vollbeschäftigung und der vollen Lohntüten.

Sie sind ein entschiedener Vertreter der These, daß die Idee der Nation eine linke Idee ist. Woher rührt nun das eigenartige gespaltene Verhältnis der Linken zur Nation? Wann trennten sich hier die Wege?

Venohr: Selbstverständlich ist die Nation eine linke Idee. Die ersten, die für die Einheit der Nation eintraten, waren die Studenten, die an den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 teilgenommen haben. Diese Studenten waren damals Linke! Sie waren gegen Thron und Altar, gegen Metternich und die Fürsten. Sie schnitten die Zöpfe ab auf ihrem Wartburgfest. Das war die neue Linke, die sich dort artikulierte. Mit einem minder großen Recht könnte man auch die bürgerlichen Widerstandskämpfer von 1848/49 als Linke bezeichnen. Immerhin, im Vergleich zur Reaktion, waren die Kämpfer auf den Barrikaden Linke – und sie traten ein für Großdeutschland und für Berlin und Wien in einem Staat! Auf dieser Linie von 1848 lag auch der Begründer der sozialistischen Bewegung in Deutschland, Ferdinand Lassalle. In der späteren Sozialdemokratie, die sich mit den Lassallanern vereinigt und zusammengeschlossen hatte, gingen die Debatten schon los um die Frage von Nation, Vaterland und die internationalistischen, kosmopolitischen Utopien, die immer stärker werden. Dies spielte aber alles keine Rolle, denn im August 1914 stand die Sozialdmeokratie zum Reich und zum Vaterland. Der erste Gefallene des deutschen Reichstages war Dr. Franke, ein Sozialdemokrat, der an die Front gegangen war, um die Heimat, um die Nation zu verteidigen.

Wie es dazu kommen konnte, daß die SPD in den Ruf kam, eine Erfüllungspartei zu sein, wie sie die Nationalsozialisten nannten, ist unbegreiflich. Es ist dies ein einsamer, singulärer Prozeß, Nation und Sozialismus auseinanderfallen zu lassen. Das gibt es in keinem anderen Land der Welt.

 

Dr. Wolfgang Venohr, 1925 in Berlin geboren, arbeitete bei verschiedenen Tageszeitungen und war von 1965 bis 1985 als Chefredakteur bei "Stern TV" und danach bei "Lübbe TV" tätig. Von seinen zahlreichen Buchveröffentlichungen sind besonders hervorzuheben der Sammelband "Die deutsche Einheit kommt bestimmt" (1982) sowie die Bücher "Stauffenberg – Symbol der deutschen Einheit" (1986) und "Patrioten gegen Hitler. Der Weg zum 20. Juli 1944" (1984).


Mordplan

"Weg mit diesem Mordplan! Wird dieser Vertrag wirklich unterschrieben, so ist es nicht Deutschlands Leiche allein, die auf dem Schlachtfeld von Versailles liegen bleibt. Daneben liegen: das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Unabhängigkeit freier Nationen, der Glaube an all die schönen Ideale, unter deren Banner die Entente zu fechten vorgab ... Eine Verwilderung der sittlichen Begriffe ohnegleichen, das wäre die Folge eines solchen Vertrages von Versailles!"

Reichskanzler Philipp Scheidemann (SPD)


 
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