© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/99 02. Juli 1999 |
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Türkische Chance von Heinrich Lummer Eine Überraschung war es nicht. Der türkische Staat hat so entschieden, wie man es erwartet hatte. Am Dienstag verurteilte das Staatssicherheitsgericht den Chef der Kurdischen Arbeiterpartei PKK zum Tode durch den Strang. Dies liegt nicht an den Richtern. Dies liegt an den Gesetzen. Wenn es in der Türkei wirklich anders werden soll, müssen die Gesetze geändert werden. Deshalb kann es keine Richterschelte geben. Der Fall des Abdullah Öcalan ist kein gewöhnlicher Fall. Er hat persönlich genauso wenig Menschen umgebracht wie der Chef des türkischen Generalstabs. An der terroristischen Qualität der PKK gibt es keine Zweifel. Die gab es aber auch nicht bei der PLO, der IRA oder einigen jüdischen Organisationen in Palästina. Warum gibt es kurdischen Terror? Weil die Türkei weder willens noch in der Lage war, den Kurden, die das wollen, jene Rechte zu geben, die einer Volksgruppe zustehen. Das ist die bedauerliche Antwort. Deshalb gehört nicht nur Öcalan auf die Anklagebank, sondern auch die türkischen Regierungen der letzten Jahrzehnte. Die Verantwortung für die Toten können sich Militärs und PKK getrost teilen. Deshalb wäre es ungerecht, Öcalan zu hängen und andere zu dekorieren. Solange es für das Unrecht der Sieger keine Richter gibt, sollte es auch für Öcalan kein vollstrecktes Todesurteil geben. Parlament und Präsident, die dem Urteil zustimmen müssen, haben eine Chance, neue Wege zur Problemlösung zu beschreiten. Auch andere Gründe sprechen gegen die Vollstreckung. So würde es in der Türkei zu neuen Anschlägen kommen. Die PKK ist durch die Festnahme Öcalans nicht handlungsunfähig geworden. Und die jüngsten Anschläge haben den Tourismus kräftig getroffen. Die PKK kennt diesen wunden Punkt. Auch täte die Türkei gut daran, auf einen Märtyrer zu verzichten. Das Blut der Märtyrer hat immer wieder beflügelt. Die Vollstreckung des Urteils müßte auch zu einem Ausschluß aus dem Europarat führen, wenn dieser sich noch als moralisches Gewissen versteht. Der Weg der Türkei nach Europa ist lang. Die Vollstreckung des Urteils macht ihn länger. Die Türkei wehrt sich nun gegen Einmischung von außen. Im Kosovo hat sie eine solche Einmischung befürwortet. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Die Geschichte des türkischen Widerstandes ist genauso lang. Sie begann und endet nicht mit Öcalan. Dies bedenkend, sollte die Türkei gerade nach einem Teilerfolg den Weg der politischen Lösung suchen. Das wäre auch ein Schritt nach Europa.
Heinrich Lummer, ehemaliger Innensenator und Bürgermeister von Berlin, war bis 1998 CDU-Bundestagsabgeordneter. |