© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/99 02. Juli 1999 |
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Stasi: Bürgerkomitee fand Anzeichen für Menschenversuche Todesfabrik in Bohnsdorf JF Die Vermutung, daß die Staatssicherheit der ehemaligen DDR Häftlingen durch eine Art gezielter "Langzeittherapie" gesundheitliche Schäden zufügte, beruht nicht bloß auf dem Krebstod von Jürgen Fuchs und anderen Dissidenten. So wie zehn Jahre nach der politischen Wende das frühere Bürgerkomitee in Gera sich Gedanken darüber machte, welchen Zwecken wohl ein in der damaligen U-Haftanstalt des MfS aufgefundenes Röntgengerät gedient haben mochte, ergaben sich inzwischen auch anderswo Verdachtsmomente. So kam jetzt auch in Berlin-Bohnsdorf die Erinnerung an ein Geschehnis auf, dessen restlose Aufklärung seinerzeit deshalb nicht gelang, weil die Stasi durch bewußte Täuschungsmanöver den Argwohn des Bürgerkomitees zu zerstreuen und bestimmte Vorgänge geschickt zu verschleiern verstand. Anfang der 70er Jahre war Bewohnern der Dahmestraße im Treptower Ortsteil Bohnsdorf aufgefallen, daß Posten des Stasi-Wachregiments Feliks Dzierzynski das Gebäude Nr. 33 wie ein Rudel Wölfe zu umkreisen begannen. Dieses Gebäude war Teil eines kleinen Fabrikgeländes, das bis zu diesem Zeitpunkt leergestanden hatte. Jetzt begann da plötzlich ein emsiges Treiben, liefen Menschen in weißen Kitteln umher, wurden von Fahrzeugen Kisten abgeladen, welche die Bezeichnung "Medizinische Laborgeräte" trugen. Nach einigen Tagen tauchte an der Eingangspforte ein Schild auf mit der Aufschrift: "Ministerium des Innern Wissenschaftliches Zentrum des Zivilschutzes". Was sich tatsächlich hinter den Mauern des Gebäudes und der Fabrik abspielte, darüber drang in all den Jahren kein Sterbenswörtchen an die Öffentlichkeit. Während der erregenden Tage des Mauerfalls im November 1989 nahmen die Anwohner wahr, daß dieses Schild klammheimlich entfernt und gegen ein anderes ausgetauscht worden war. Nunmehr stand da "Institut für Kartographie und Bildungswesen" zu lesen. Doch gerade dies weckte die Hellhörigkeit der Menschen. Sie fingen an, sich Gedanken darüber zu machen, was es mit diesem merkwürdigen Gelände und den seltsamen Labors hinter den mit Eisenstäben gesicherten Fenstern sowie den Elevatoren, welche zum Absaugen von Luft bestimmt waren, wohl auf sich hatte. Stephan Göpfert und sein Freund Klaus-Dieter Luft waren besonders hartnäckig, rüttelten schließlich durch Flugblätter die Öffentlichkeit wach. Es formierte sich ein Bürgerkomitee, das sich den Zutritt zu dem Haus Dahmestr. 33 erzwang. Was es dort vorfand, löste bei den Mitgliedern wahres Entsetzen aus. Annähernd zwei Jahrzehnte hatte das Ministerium für Staatssicherheit in diesem Wohngebiet, 300 Meter von einem Kindergarten entfernt, eine Todesfabrik betrieben, in der Experimente mit Nervengasen und verschiedene Giften anstellt wurden. Stasi-Oberst Wolfgang Trebesius, Chefchemiker der geheimen Laborstätte, beschwichtigte das Bürgerkomitee, versuchte ihm einzureden, daß hier lediglich Versuche stattgefunden hätten, um herauszufinden, wie sich bei etwaigen Havarien in Chemiebetrieben austretende Giftstoffe verhalten würden. Doch dieses Lügengespinst zerstob in dem Moment, als ein Mitglied des Bürgerkomitees den hohen Stasi-Offizier mit einem Behälter konfrontierte, welchen er im Kellerraum verborgen hinter Papiersäcken gefunden hatte. Totenblässe trat in alle Gesichter, nachdem man die Aufschrift "Sarin" entziffert hatte. Neben Tabun stellt Sarin einen der gefährlichsten chemischen Kampfstoffe dar, von dem bereits wenige Milligramm den Tod eines Menschen herbeiführen können. In der Bohnsdorfer Todesfabrik lagerten jedoch sage und schreibe 400 Gramm dieses Todescocktails, ausreichend, um Zehntausenden von Menschen das Leben zu rauben. Widerwillig gab jetzt der Oberst zu, daß auch Sarin zum Bestandteil von Experimenten in der Fabrik gehört habe. Eine der brisantesten Entdeckungen freilich, die bei der Auflösung dieses Stasi-Objektes gemacht wurden, fand damals ebensowenig gebührende Beachtung wie die Strahlenwaffe in Gera. Ein Mitglied des Bohnsdorfer Bürgerkomitees, Arzt von Beruf, war in einem der Räume stutzig geworden, als er dort ein Bett erblickte, an dem zur Beobachtung eine Videokamera angeschlossen war. Der damalige Abgeordnete der Treptower Stadtbezirksversammlung, Kaczmarczyk, erhob seinerzeit die Forderung nach Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission. Doch die Implosion des Staatswesen DDR löste derartig viele Eruptionen aus, daß darüber in Bohnsdorf versäumt wurde, den Stasi-Leuten weiter auf die Finger zu sehen. Die nutzten die ihnen noch verbleibende Zeit aus, um während der Nachtstunden alles sie belastende Material mit unbekanntem Ziel abzutransportieren. Als sich das Bürgerkomitee endlich des Geschehnisses wieder annehmen wollte, waren verdächtige Spuren längst entfernt worden. Es gibt auch manche Hinweise von ehemaligen politischen Häftlingen über eigentümliche Experimente, die in den Haftanstalten an Menschen vorgenommen wurden. Edith Fiedler beispielsweise, eine frühere Mitarbeiterin der DDR-Bauakademie und nach einer mißlungenen Flucht von der Stasi inhaftiert, gab zu Protokoll, daß sie und andere weibliche Häftlinge in der U-Haftanstalt Frankfurt/Oder durch Beimischung von Hormonpräparat an die Gefängniskost in den Zustand von Scheinschwangerschaften versetzt wurden. "Es bedarf heute noch der Aufklärung, was die Stasi damals mit uns angestellt hat", sagt sie. Vor ein paar Jahren fiel ihr auf, daß von zahlreichen politischen Häftlingen mit denen sie nach dem Zusammenbruch der DDR weiter in Kontakt gestanden hatte, es nicht einen einzigen mehr gab, der inzwischen nicht krebskrank geworden war. Ein Zufall? |