© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/99 02. Juli 1999


Atomkraftwerke: Der Ausstieg aus der Atomtechnologie dauert noch Jahrzehnte
Von Konsens bisher keine Spur
Ilona Keil

Langsam bekommen sie kalte Füße. Kaum jemand bei den Grünen glaubt noch ernstlich daran, daß es im Einvernehmen mit der Atomindustrie zu einem Kompromiß kommen wird, der sich als schneller Ausstieg aus der Atomtechnologie verkaufen läßt. Vieles sieht eher danach aus, daß die Grünen, die 1979 als Anti-Atom-Partei angetreten sind, gezwungen werden, Laufzeiten von mehreren Jahrzehnten zu akzeptieren; verbunden mit einem Gesichtsverlust, wie er kaum schlimmer sein könnte.

Preschte Umweltminister Jürgen Trittin gleich nach der gewonnenen Bundestagswahl noch optimistisch nach vorn, sind dem Minister für Reaktorsicherheit seither gleich mehrfach die Flügel gestutzt worden. Das Gesetz des Handelns in Sachen Atomkraft liegt inzwischen in den Händen des parteilosen Wirtschaftsministers Werner Müller.

In geheimen Gesprächen mit vier Betreibern und Eigentümern von Atomkraftwerken, die zusammen rund 80 Prozent der installierten Leistung besitzen, schaffte Müller weitestgehend Einvernehmen über die Eckpunkte zur Beendigung der Nutzung der 19 in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke. Danach wird der Atomausstieg einerseits durch Verbot des Neubaus von Atomkraftwerken und andererseits durch "das geordnete Auslaufen bestehender Kernkraftwerke" verwirklicht. "Geordnet" im Sinne der an den Verhandlungen beteiligten Betreiber RWE, VEBA, Viag und EnBW bedeutet, daß jedes ihrer Atomkraftwerke spätestens 35 Jahre nach seiner Inbetriebnahme dauerhaft vom Netz genommen werden muß. Nach dem Willen der Stromkonzerne ginge das erste AKW in vier Jahren vom Netz, also nicht einmal in dieser Legislaturperiode, das letzte, das AKW Neckarwestheim, erst im Jahr 2024. Diese – im Moment am meisten umstrittene – Begrenzung der Laufzeit soll Gegenstand eines öffentlich-rechtlichen Vertrages werden, in dem außer den Restlaufzeiten auch zugesichert werden soll, daß der Betrieb "nicht durch behördliche Interventionen gestört wird", so der Wortlaut des Ergebnisprotokolls. Radioaktive Abfälle sollen demnach nach einer Übergangszeit von längstens fünf Jahren grundsätzlich am Standort oder in dessen Nähe zwischengelagert werden und nur noch bis spätestens Ende 2004 im Ausland aufgearbeitet werden dürfen. Über den weiteren Verbleib der radioaktiven Abfälle heißt es: "Für die Endlagerung (…) reicht nach heutiger Kenntnis ein Endlager in tiefen geologischen Formationen aus. Die Arbeiten zur Erkundung des Salzstockes Gorleben werden zu einem sinnvollen Zwischenergebnis gebracht und dann unterbrochen. Es werden mögliche alternative Endlagerstandorte ermittelt". Zur Absicherung soll den AKW-Betreibern im Falle der Verletzung wesentlicher Bestimmungen des Vertrages ein Kündigungsrecht zugestanden werden.

Daß es vergangene Woche auf Grundlage dieses grundsätzlichen Übereinkunft nicht zu einer Einigung gekommen ist, liegt vor allem an den Restlaufzeiten. Während Manfred Timm, Chef der Hamburgischen Electricitätswerke (HEW), die vorgesehene Begrenzung auf 35 Kalenderjahre für untragbar hält und 40 Vollastjahre fordert, betont Trittin, daß die Laufzeit "unter 30 Jahren" liegen muß, so daß das letzte AKW spätestens in 20 Jahren vom Netz ist.

Da in dieser Frage weder unter den Betreibern noch in der Koalition Einvernehmen besteht, wollen die Grünen, anders als Wirtschaftsminister Müller, der die Sache bis Mitte Juli unter Dach und Fach bringen will, den Entscheid über den Erfolg oder das Scheitern der Konsensgespräche auf Herbst vertagen.

Daß der energiepolitische Sprecher der Union, Horst Seehofer (CSU), das Ausstiegskonzept des Wirtschaftsministers als "vernünftig" lobte, mag zwar verwundern, hat aber einen einfachen Grund. Seiner Ansicht nach lasse der Ausstiegsplan einer künftige CDU/CSU-Regierung "alle Optionen offen". Von einer "Unumkehrbarkeit" kann also nur sprechen, wer der rot-grünen Regierung mehr Durchhalten zubilligt als der 16 Jahre währenden Kohl-Regierung.


 
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