© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/99 02. Juli 1999


Vergessene Schriftsteller (V): Der Lebensphilosoph Ludwig Klages
Metaphysiker des Heidentums
Baal Müller

"Im Tönesturm des Planeten unentbehrliche Akkorde sind die erhabne Öde der Wüste, die Feierlichkeit des Hochgebirges, die ziehende Wehmut weiter Heiden, das geheimnisvolle Weben des Hochwaldes, das Pulsen seeblitzender Küstenstriche. Ihnen betteten sich ein oder es blieben träumend mit ihnen verschmolzen die ursprünglichen Werke des Menschen."

In feierlichen und pathetischen Worten wie diesen aus seinem bekanntesten Aufsatz "Mensch und Erde" (1913) hat Ludwig Klages immer wieder die Erdverbundenheit und Naturfrömmigkeit einer ursprünglichen Menschheit gepriesen, deren Werke und Bauten "die Seele der Landschaft, aus der sie emporgewachsen" noch "atmen" und "offenbaren". Zerstört wurde diese Einheit nach Ansicht des Philosophen durch den Einbruch des "Geistes" in die vorgeschichtliche Welt des "Pelasgertums", gleichsam den kosmischen Sündenfall.

Das geistige Prinzip – für Klages das Grundübel und der Ursprung eines die gesamte Geschichte durchherrschenden Zersetzungsprozesses – ist somit kein ursprüngliches Eigentum des Menschen und auch keine der Wirklichkeit per se zukommende Eigenschaft, sondern es ist beiden das schlechterdings Andere und Fremde. Wirklich ist nach Klages allein die raumzeitliche Welt, die er als ein Kontinuum erscheinender Bilder versteht, die noch nicht durch die Projektionen des Geistes bzw. des Ichbewußtseins als seines anthropologischen Trägers verstellt und verdinglicht wurden. Maß und Zahl, Punkt und Grenze sind in der Klages’schen Erkenntnis- und Seinslehre die Kategorien des Geistes, kraft derer er das wesenhaft erlebte und schicksalhaft aus sich selbst erscheinende Geschehen in disparate Abschnitte unterteilt und dadurch berechenbar und beherrschbar macht.

Diese Distinktion ermöglicht dem Menschen zwar Erkenntnis – weshalb Klages ungeachtet seines gelegentlichen verbalen Radikalismus und seinen zahlreichen Kritikern zum Trotz kein Irrationalist war –; gleichzeitig und gleichursprünglich ist sie jedoch die Ursache des gigantischen Verblendungs- und Vernichtungsgeschehens, das die Welt nach Klages’ Überzeugung eines nicht mehr fernen Tages in eine Mondlandschaft verwandelt haben wird.

Mit erstaunlicher Hellsichtigkeit hat der 1872 in Hannover geborene und 1956 in Kilchberg verstorbene Denker bereits in seinen ersten Schriften um die Jahrhundertwende, die 1944 unter dem Titel "Rhythmen und Runen" von ihm, obwohl noch zu Lebzeiten, als sein Nachlaß herausgegeben wurden, so konkrete Folgen der modernen Zivilisation wie die Ausrottung zahlloser Tier- und Pflanzenarten oder die weltweite Nivellierung der Kulturen (die sich heute "Globalisierung" nennt) angeprangert. Seine besondere Faszination, die in den Augen mancher Interpreten allerdings gerade seine Schwäche darstellt, besteht in der philosophischen Begründung dieser Zusammenhänge, die er vor allem in seinem Hauptwerk "Der Geist als Widersacher der Seele" (1929–32) geleistet hat.

Anders als viele Zeitgenossen, die sich wie er der Lebensreform verschrieben hatten, empfahl er nicht nur modische Kuren wie Vegetarismus, FKK und Eurythmie, predigte er keine pubertären Weltrevolutionen und beklagte er auch nicht nur die negativen Symptome des "Fortschritts", sondern er versuchte – darin ganz traditioneller Metaphysiker und deutscher Systemphilosoph – die Wurzeln aller Übel ein für allemal theoretisch zu fassen. Sein Grundproblem, den Gegensatz von Geist und Seele bzw. Leben, verfolgte er, teils mit der ihm eigenen leidenschaftlichen Polemik, teils in den subtilsten philosophischen Verästelungen, in allen seiner zahlreichen und meist sehr voluminösen Werke, die manchmal historischen Gestalten gewidmet sind, etwa "Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches" (1926), meist aber systematische Gebiete behandeln. Letztere sind die von ihm wesentlich angeregten Disziplinen der Ausdrucks- und Charakterkunde sowie vor allem die Graphologie, die Klages in den Rang einer Wissenschaft erhoben hat.

1895 gründete er mit Hans H. Busse nach einem widerwillig betriebenen Chemiestudium in München das Institut für wissenschaftliche Graphologie; außerdem widmete er ihr verschiedene Lehrbücher, unter denen vor allem "Handschrift und Charakter", erstmals 1917 erschienen, zahlreiche Auflagen erlebte und seinen Verfasser einem größeren Publikum bekannt machte. Ein publizistischer Erfolg war schließlich auch sein eigenartiges Buch "Vom kosmogonischen Eros" (1922), das mit seiner Panerotik und seiner beschwörenden Evokation heidnischer Totenkulte in vielem an die Geisteswelt seines Freundes Alfred Schuler erinnert, der wie Klages um 1900 zur Schwabinger Bohéme zählte.

Dieses von Hermann Hesse und Walter Benjamin hochgeschätzte Werk hält auf gelungene Weise die Mitte zwischen Philosophie und Wissenschaft einerseits, prophetischer Rede und Dichtung andererseits, zwischen welchen Polen das Klages’sche Gesamtwerk oszilliert. Dadurch passiert es glücklich die für Klages’ Stil so typische Scylla und Charybdis, die seine Schriften – neben ihrer philosophischen Elaboration – für heutige Leser zu einer schwierigen Lektüre macht: die trotz seiner sprachlichen Meisterschaft oft allzulangen Perioden seines Satzbaus, die uferlosen Stoffmassen, die besonders in seinem 1.500seitigen "Widersacher" kaum bewältigt wurden, und schließlich das archaisierende Pathos des Sehers und Künders, das Klages mit vielen Repräsentanten seiner Generation teilt.

Gelingt es dem Leser, diese anfänglichen Schwierigkeiten zu überwinden, so wird sich ihm ein Werk erschließen, das neben seiner vom Slang des Medienzeitalters äonenweit entfernten Sprache eine Fülle philosophischer Erkenntnisse aufzuweisen hat. Gerade diese, wie etwa seine Beobachtungen zur gestalthaften und "atmosphärischen" Wahrnehmung, zu Wach- und Traumbewußtsein oder zu Sprach- und Denkstrukturen, lassen den allzu pauschalen und im Einzelnen wenig überzeugenden Dualismus seines Grundgedankens zurücktreten, der Klages von seinen oberflächlichen Kritikern immer wieder vorgehalten wurde. Ähnlich gilt es, sich von der neuheidnischen Programmatik seines Gesamtprojektes weder vordergründig abschrecken noch – je nach Geschmack – zu voreiligem Jubel hinreißen zu lassen.

Klages’ Neopaganismus, der nichts mit Astrologie, Runenkunde oder dergleichen zu tun hat, versteht sich als eine "Metaphysik des Heidentums", als nachträgliche philosophische Explikation einer prärationalen "heidnischen" Weltauffassung. Zu dieser gehört nicht etwa der Glaube an personale und funktional bestimmte Götter, sondern eine Sichtweise, der – nach Klages’ Rekonstruktion – der Kosmos als beseelt und lebendig erscheint. Während der neuzeitliche Mensch durch sein Streben nach Erkenntnis die Welt verdinglicht, ist es für den Heiden ein Frevel, den Schleier der Isis zu lüften. Baal Müller

In der Reihe "Vergessene Schriftsteller" sind bisher Beiträge von Baal Müller über Ernst Bertram (JF 7/99) und Rudolf Borchardt (17/99), von Magdalena Gmehling über Ernst Wiechert (10/99) sowie von Ulli Baumgarten über Edwin Erich Dwinger (23/99) erschienen.


 
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