© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/99 02. Juli 1999 |
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Zeit der Besinnung von Detlef Kühn Das Jahr 1999 markiert im öffentlichen Bewußtsein nicht nur das Ende des 20. Jahrhunderts und 2. Jahrtausends unserer Zeitrechnung. Es steht auch für den 60. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, für den 50. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland sowie nicht zuletzt für den 10. Jahrestag des Falls der Mauer in Berlin und damit des Endes der kommunistischen Herrschaft in der DDR. Wahrhaftig genügend Anlässe zu Besinnung und Erinnerung, zu Bilanz und Ursachenforschung. Aber auch Anlaß zum Nachdenken über die Zukunft, über mögliche Lehren aus der Vergangenheit, damit sich nicht das zynische Wort erneut bewahrheitet, die Geschichte lehre nur eins, nämlich daß aus ihr nichts gelernt werde. Die Protagonisten aller Erinnerungsarbeit und Zukunftsdeutung, die Intellektuellen, stehen in Deutschland immer noch mehrheitlich gefühlsmäßig "links", was auch immer das im einzelnen bedeuten mag. Ihnen ist 1989 mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der den meisten unerwünschten Wiedervereinigung die Sicherheit abhanden gekommen, daß "Sozialismus", trotz aller Pervertierungen, nicht nur grundsätzlich ein Fortschritt sei, sondern sogar der Sieger der Weltgeschichte sein werde. Nach derselben Logik sollte der nationale Gedanke in all seinen Spielarten dagegen zwangsläufig von Übel und historisch zum Untergang verurteilt sein. So sicher ist man nun nicht mehr! Statt dieser Gewißheiten hat der Untergang der DDR und ihm folgend der Sowjetunion gezeigt, daß sozialistische Systeme nicht nur an Strukturfehlern wie Planwirtschaft und Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmittel zugrunde gehen, sondern vor allem an ungelösten nationalen Fragen. Zum großen Entsetzen aller, die ihre Hoffnungen auf Multikulturalismus und ein postnationales Europäertum setzen, beweist auch das Ende des sozialistischen Jugoslawiens, daß der nationale Gedanke und nationale Interessen immer noch die entscheidenden Antriebskräfte in Europa sind, die man nicht ungestraft ignoriert. Ob eine Schlußfolgerung aus dieser Erkenntnis gezogen wird, dürfte von entscheidender Bedeutung für das kommende Jahrhundert sein. Der von Links-Intellektuellen beherrschte öffentliche Diskurs ist jedoch jedenfalls in Deutschland weit davon entfernt, sich diesen Problemen auch nur ansatzweise zu stellen; sie bleiben tabuisiert. Lieber beschäftigt man sich mit den Details der Folgen der Wiedervereinigung, die man nicht gewollt hatte, und beklagt zum Beispiel die traurige Erfahrung einiger DDR-Bürgerrechtler, die 1989 "Gerechtigkeit" wollten und statt dessen "nur" den Rechtsstaat bekamen. Lustvoll geht man allen Hinweisen nach, statt der realen Mauer, die am 9. November 1989 von den Menschen in der DDR zum Einsturz gebracht wurde, könnte nun eine "Mauer in den Köpfen" den Osten vom Westen Deutschlands trennen. Dieser Hinweis scheint auch denen in den "alten" Bundesländern einzuleuchten, die die Hoffnung pflegen, in Deutschland könne alles so bleiben, wie es vor 1989 in der Bundesrepublik war. Wenn man Umfragen trauen darf, hat sich in den vergangenen zehn Jahren nur ein Viertel der Westdeutschen im Osten umgesehen und mit den dortigen Verhältnissen einigermaßen vertraut gemacht. Umgekehrt dürften es drei Viertel der ehemaligen DDR-Bewohner sein, die Reisen in den Westen unternahmen. Wer jedoch aus Westdeutschland in die neuen Bundesländer umgesiedelt ist, wird in aller Regel bestätigen, daß es natürlich von unterschiedlichen Erfahrungen geprägte unterschiedliche Denkweisen gibt, die zu den sowieso existierenden landsmannschaftlichen Verschiedenheiten hinzukommen, daß aber von einer jetzt erst entstehenden "Mauer in den Köpfen" keine Rede sein kann. Wenn man in Betracht zieht, daß in Sowjetischer Besatzungszone und DDR nach 1945 die alten Eliten entmachtet, enteignet und zu Millionen in den Westen gedrängt wurden, daß auch nach Errichtung der Mauer 1961 insbesondere kreative und agile Menschen die Verhältnisse in der DDR oft unerträglich fanden und zu Hunderttausenden über Drittstaaten flüchteten, ihre Ausreise ertrotzten oder von den verschiedenen Bundesregierungen "freigekauft" wurden, dann muß man sich eigentlich eher darüber wundern, daß trotz dieses permanenten Aderlasses die verbliebenen Einwohner immer noch die DDR beseitigen und die Wiedervereinigung zustande bringen konnten. Heute wie vor 1989 verbindet die Menschen in allen Teilen Deutschlands viel, viel mehr, als sie trennt. Das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl ist im Kern immer intakt geblieben anders wäre weder der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik noch der Milliarden-Transfer aus dem Westen in den Osten zu erklären. Zerplatzte Illusionen und enttäuschte Hoffnungen ändern nichts daran, daß Alltagssorgen ebenso wie Befürchtungen in bezug auf die Zukunft den Menschen in Ost und West eher gemeinsam sind. Politiker und Intellektuelle wären besser beraten, wenn sie statt noch den kleinsten mentalitätsbedingten Unterschieden akribisch nachzugehen sich lieber auf die Lösung der allen Deutschen gemeinsamen Probleme konzentrierten. An solchen fehlt es wahrlich nicht. Leider ist ein großer Teil von ihnen hochgradig tabuisiert. Da ist einmal das strukturelle Demokratie-Defizit. Es existiert insbesondere auf der sogenannten europäischen Ebene, wo die politisch wichtigen Beschlüsse von einem multinationalen Ministerrat und einer ebensolchen Kommission von den Bürgern weder beeinflußt noch kontrolliert werden können. Nur so ist zu erklären, daß die Währungsunion mit der Euro-Gemeinschaftswährung 1990 heimlich, hinter dem Rücken des Volkes vom deutschen Bundeskanzler mit dem französischen Staatspräsidenten verabredet werden konnte, nur um diesem den Widerstand gegen die sich abzeichnende Wiedervereinigung abzukaufen. Auch nach Offenlegung dieser Pläne wurden die Verhandlungen so geführt, daß das Volk, der Souverän, keine Chance hatte, die Entscheidungen der Regierenden zu beeinflussen. Der Bevölkerung wurde in einer eminent wichtigen Frage eine von ihr bis heute mit guten Gründen mehrheitlich abgelehnte Maßnahme aufgezwungen. Diese Pervertierung der repräsentativen Demokratie wird immer noch damit gerechtfertigt, das deutsche Volk habe schließlich Hitler gewählt und somit bewiesen, daß es politisch unreif sei und vor sich selbst geschützt werden müsse. Auf die im Verordnungswege ergehenden Entscheidungen der Polit-Bürokraten in Brüssel, die erst recht nicht von den ihnen unterworfenen Völkern Europas beeinflußt werden können, sei in diesem Zusammenhang nur der Vollständigkeit halber hingewiesen. Insgesamt gefährdet diese Abart von Demokratie nicht nur die Interessen unseres Volkes sondern, verhindert auch, daß die grundsätzlich vorhandene Akzeptanz des demokratischen Systems gefestigt wird. Die verheerend niedrige Wahlbeteiligung bei den Europa-Wahlen, nicht nur in Deutschland, spricht für sich. Die Menschen durchschauen, was mit ihnen gespielt wird, und wehren sich auf ihre Weise. Ähnlich tabuisiert, aber natürlich erst recht von existentieller Bedeutung für das deutsche Volk, sind die Folgen der durch den Pillenknick ausgelösten demographischen Entwicklung und des daraus folgenden Einwanderungsdrucks von Menschen aus völlig anderen Kulturkreisen, die praktisch nicht mehr integriert werden können. Eine nüchterne Diskussion der damit verbundenen Probleme und der notwendigen Maßnahmen wird mit dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit absichtlich verhindert. Dabei genießt Deutschland unter potentiellen Zuwanderern, meist Armutsflüchtlingen, zu Recht den Ruf einer extremen Fremdenfreundlichkeit, die in dieser Welt ihresgleichen sucht. Schließlich liefern alljährlich Hunderttausende von Menschen aus aller Herren Länder, die die deutsche Wirtschaft nicht braucht, ihre oft erheblichen Ersparnisse kriminellen Schleuser-Banden aus, nur um von ihnen illegal in den Bereich der deutschen Sozialgesetzgebung verbracht zu werden, wo man ernährt wird, ohne arbeiten zu müssen. Ist das fremdenfeindlich? Natürlich tun diese Menschen in der Regel dann doch etwas. Die Folge ist ein Anstieg der Schwarzarbeit, der mafiosen und sonstigen kriminellen Aktivitäten und der politischen Betätigung von Ausländern zugunsten ihrer heimischen Interessen, oft unter Einsatz terroristischer Mittel. Die deutsche politische Klasse reagiert auf diese Probleme, die sie zum Teil durch die Sozialgesetze selbst geschaffen hat, indem sie sie systematisch verdrängt und der öffentlichen Diskussion nach Kräften ausweicht, jedenfalls hilflos und mit Halbheiten und Beschwichtigungen. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit für in Deutschland geborene Kinder von Ausländern, leider unter Mitwirkung der FDP, die als Opposition eigentlich Besseres zu tun gehabt hätte und vor ihrer historischen Verantwortung versagt hat. Die offensichtlichen praktischen Probleme dieser Regelung, von der wider besseres Wissen behauptet wird, sie werde die Integration von Ausländern erleichtern (das Gegenteil ist der Fall!), werden erst in zehn oder mehr Jahren, dann aber um so brutaler, zutage treten. Die jetzt handelnden Politiker werden dann abgetreten sein und die Folgen ihres Tuns nicht mehr zu verantworten haben. Ob die von ihnen begünstigten Ausländer dann wenigstens so dankbar sind, ihnen die "verdienten" komfortablen Altersbezüge weiter zu gewähren? Wir werden sehen. Wahrscheinlicher ist, daß die Integration von Ausländern nicht nur nicht erleichtert, sondern weiter erschwert wird. Die jetzt schon offenkundige Ghetto-Bildung in Städten wie Offenbach, Frankfurt/Main und Berlin wird weitergehen. Die politischen Auseinandersetzungen werden aus den jeweiligen Heimatländern immer mehr nach Deutschland verlegt, zum Beispiel der Kurden-Konflikt, und können leicht zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf deutschen Straßen führen. Welche Sicherheitsorgane könnten dies verhindern? Eine Polizei, deren politische Führung an Deeskalation durch Zurückweichen glaubt? Die Bundeswehr wird nach dem angeblichen Ende des Ost-West-Konflikts weithin als überflüssig und als Einsparungs-Potential für weitere Sozial-Experimente angesehen. Die Wehrpflicht soll nach Auffassung vieler Politiker in allen Parteien abgeschafft werden. Dann sind die "jungen ausländischen Mitbürger" mit Doppelpaß, die ihrer Wehrpflicht in ihrem Heimatland nachgekommen sind, in Deutschland die einzigen, die noch mit Waffen umgehen können... . Sind das alles Hirngespinste eines notorischen Schwarzsehers? Diesen Optimismus aufzubringen fällt schwer angesichts der Verhältnisse in den nahen Viel-Völker-Staaten Rußland, Jugoslawien oder Türkei. Daß so etwas auch in dem kleinen, engen Deutschland möglich wird, ist leider überhaupt nicht mehr auszuschließen. Aber wo ist die Bereitschaft unserer politischen Parteien, diese Probleme erst einmal wenigstens zur Kenntnis zu nehmen und in ihren Diskussionen zu thematisieren? Dann ist ja immer noch ein weiter Weg bis zu Lösungen, die sicher nicht im deutschen Alleingang erfolgen können, sondern Absprachen mit unseren Nachbarn nötig machen, die unter ähnlichen Schwierigkeiten leiden. Aber jeder Weg erfordert nun einmal einen ersten Schritt. Anders kann man das Ziel, eine friedliche Entwicklung in Deutschland und Europa, nicht erreichen. Die hier aufgezeigten Gefahren für unsere Zukunft, denen leicht noch weitere hinzugefügt werden können, bedrohen unser Volk in seiner Existenz. Dabei gibt es keine Unterschiede zwischen Ost und West. Die oft beschworene "Mauer in den Köpfen" ist dagegen nur ein Ablenkungsmanöver. Gefährlich ist nicht diese angebliche Mauer sondern nur die "politische Korrektheit", die eine freimütige Diskussion dieser Probleme verhindert. Sie muß gebrochen werden, notfalls auch gegen den Willen der etablierten, sich gern "staatstragend" gebenden Parteien. Wie das geschehen kann, haben die fünf Millionen Unterschriften gezeigt, die die Unions-Parteien gegen die doppelte Staatsangehörigkeit gesammelt haben. Leider hat dieser Erfolg die CDU eher erschreckt, so daß sie eine derartige Massen-Mobilisierung sicherlich nicht so bald wiederholen wird. Jedenfalls müssen sich die Parteien endlich den existentiellen Problemen des Volkes öffnen, die weit über den Spitzensteuersatz, die Scheinselbständigkeit und die 630-Mark-Jobs hinausgehen. Sonst werden sich die Menschen weiter von ihnen zurückziehen. Schon jetzt kann sich in Bremen die große Koalition mit fast 90 Prozent der Mandate nur noch auf die Zustimmung von gut der Hälfte der Bevölkerung stützen, weil 40 Prozent der Wahlberechtigten nicht an der Wahl teilgenommen haben. Diese Entwicklung gefährdet unmittelbar die Demokratie. Möge später niemand sagen, das Volk habe versagt.
Detlef Kühn, Jahrgang 1936, war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn. Von 1992 bis zu seinem Ausscheiden Anfang dieses Jahres war er Direktor der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien in Dresden. Detlef Kühn veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zu deutschlandpolitischen Themen. |