© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/99 09. Juli 1999


Ernüchterung: Die jugoslawische Armee überstand die Nato-Luftangriffe mit geringen Verlusten
Trojanische Pferde auf dem Amselfeld
Kai Guleikoff

Als der serbische Generaloberst Svetozar Marjanovic am 9. Juni im Verhandlungszelt bei Kumanovo/Mazedonien seine Unterschrift unter das Militärabkommen zwischen der Nato und der Bundesrepublik Jugoslawien setzte, wirkte er äußerlich unberührt und gelassen. Nur elf Tage Frist wurde dem 3. jugoslawischem Korps eingeräumt, sich und alle anderen bewaffneten Kräfte aus dem Kosovo zurückzuziehen.

Nach internen Nato-Einschätzungen wurde ein "kläglich zusammengeschossener und demoralisierter Haufen" erwartet, dem im Bedarfsfall sogar der "Sprit für die wenigen fahrbereiten Fahrzeuge" zu stellen sei. Die Überwachungskameras am Boden und in der Luft filmten jedoch den geordneten Rückzug gutgenährter Soldaten und Polizisten, die in und auf vorwiegend gepanzerter Technik saßen, ihre Fahnen entrollt hatten und die Hände mit dem serbischen Siegeszeichen emporreckten.

250 Kampfpanzer, 450 Radpanzerfahrzeuge, 600 Geschütze und Granatwerfer zeigten sich den Nato-Beobachtern in gutem technischen Wartungszustand. Die gefürchtete Rohrflak und die mobilen Tiefflieger-Abwehrraketen-Komplexe begleiteten die Fahrzeugkolonnen feuerbereit und in Gefechtsordnung. 22 Schwertransporter waren im Pendelverkehr eingesetzt und beförderten die modernen T-72 Panzer, Führungsstellen und immer noch großen Munitionsreserven aus dem Besatzungsgebiet der Kfor-Truppen heraus. Flugzeuge, darunter moderne MiG-29 M, rollten aus ihren Bunker-stellungen und flogen unter Nato-Beobachtung in nordwestliche Richtung ab. Der Rückzug der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) wurde einen halben Tag eher beendet als vereinbart.

Wie die Times am 24. Juni meldete, fanden die nachrückenden Kfor-Truppen lediglich drei Panzerwracks. Um so zahlreicher wurden Attrappen von Panzern, Geschützen und Raketen gefunden. Umfangreiche Scheinstellungen hatten die Luftbildauswerter der Nato hinters Licht geführt.

Eine bereits im Zweiten Weltkrieg von allen unmittelbaren Kriegsteilnehmern erfolgreich angewandte Methode der Täuschung bewährte sich im Kosovo-Krieg wiederum sehr effektiv. Die Luftangriffe der Nato, oft durch Schlechtwetterperioden eingeschränkt bzw. unterbrochen und durch Bodenoperationen nicht unterstützt und vertieft, verfehlten gegen militärische Ziele weitgehend ihre Wirkung.

Immerhin wurden in 79 Luftangriffstagen bei 35.000 Lufteinsätzen 23.000 Bomben und Raketen abgeworfen bzw. abgefeuert. Alleine dieser Luftkrieg kostete nach ersten Berechnungen etwa 11 Milliarden Mark.

Eine beinahe sträfliche Gegnerunterschätzung gipfelte vor Beginn der Nato-Angriffshandlungen in dem Satz: "Wenn die Jugos nicht kuschen wollen, reichen ein paar Laserbomben, um die wieder zur Räson zu bringen." Nach Auslösung der "Luftschläge" sollte auch binnen einer Woche die Unterschrift von Milosevic unter dem Dayton-Abkommen sein. Doch seit dem Ausschluß Jugoslawiens aus der UNO-Generalversammlung am 22. Juni 1992 wissen die tonangebenden Serben "sich mit dem Rücken an der Wand stehend". Ihre Luftunterlegenheit wurde ihnen im Gefecht bei Novi Travnik/Nordbosnien am 28. Februar 1994 sichtbar: Zwei amerikanische F-16 Kampfflugzeuge schossen vier jugoslawische MiG ab. Die überlegene Elektronik der US-Amerikaner ließ den gut ausgebildeten jugoslawischen Piloten keine Chance. Wissenswert ist auch die Tatsache, daß es beispielsweise die MiG-29 in drei "verteidigungspolitischen" Ausstattungsvarianten gibt. Bestausstattung nur für die russische Landesverteidigung, dann für "Verbündete im Interesse der eigenen Verteidigung" und schließlich aus rein geschäftlichen Erwägungen. Seit Titos Bruch mit Stalin gab es für Jugoslawien nur die zuletzt genannte Option. Der Vorteil besteht in der relativ einfachen Bedienung der Waffensysteme und ihrer legendären Robustheit. Der Aufbau einer eigenen Waffenindustrie begann auch unter dem Aspekt ihrer weitgehenden Unverwundbarkeit. Im Gebiet von Sarajevo/Bosnien-Herzegowina wurden alleine sechzig, teils unterirdische, Fabriken gebaut (Militär-Industrie-Komplex "UNIS"). Titos Konzept der "Allgemeinen Volksverteidigung" erfaßte ständig zehn Prozent der Bevölkerung. Grundlagen der militärischen Denkweise und Ausbildung sind lange Bestandteil der technisch-naturwissenschaftlichen und handwerklichen Bildung aller Volksschüler und Gymnasiasten gewesen. Das Konzept der "Allgemeinen Volksverteidigung" erfaßte auch alle Bürger Jugoslawiens in der allgemeinen Wehrpflicht von achtzehn Monaten: Männer vom 17. bis zum 50. Lebensjahr, Frauen vom 19. bis zum 40. Lebensjahr.

Diese langen wehrhaften Traditionen wirken bis heute nach und nähren den Mythos von den "unbesiegbaren Serben". Schon zu Titos Zeiten bestand das Offizierskorps vorwiegend aus dem serbischen Bevölkerungsteil. Die jugoslawische Landesverteidigung ist nach wie vor auch auf die Abwehr weit überlegener Gegner eingestellt. Die Geographie des Landes begünstigt das "Aussitzen" von Luftangriffen und den hinhaltenden Bodenkampf. Fast die Hälfte des Landes wird vom Faltengebirge der Dinariden eingenommen. Mehr als ein Drittel der Gesamtfläche Jugoslawiens ist mit Wald bedeckt, oft in Höhen von über tausend Metern. Etwa ein Fünftel der Straßen sind nur wenig oder überhaupt nicht befestigt und sind jahreszeitlich abhängig befahrbar. Im Landesinnern treten sehr heiße Sommer auf und frühe, relativ kalte Winter. Heftige Fallwinde, wie der trockenkalte Bora, setzen dem Fremden zu.

Die Bodentruppen der jugoslawischen Armee und die Paramilitärs kommen vorwiegend aus der bäuerlichen Bevölkerung. Der Geographie des Landes entspricht ihre Ausrüstung und Ausbildung den Gebirgsjägern. Ihre hochmobilen Maschinenwaffen im Kaliber 23, 37 und 57 Millimeter hielten die Nato-Kampfflugzeuge auf 4.000-Meter-Distanz und die Kampfhubschrauber vom eigenen Einsatzgebiet fern. Aus der Deckung wird der Gegner beschossen, durch häufigen Stellungswechsel, Scheinfeuerstellungen und Attrappen verwirrt und durch umfangreiche Verminung an der zügigen Verfolgung gehindert. Im Zweiten Weltkrieg gelang es, sogar der Deutschen Wehrmacht den Zutritt in bestimmte Landesteile dauerhaft zu verwehren. Generalstabschef Dragoljub Ojdanic sprach von einer "37fachen Überlegenheit der Nato" und bemerkte trocken: "Hätten wir Atomwaffen, wären sie gar nicht hier!"


 
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