© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/99 09. Juli 1999


Versailles und die Folgen: Der vergessene Untergang der deutschen Hochseeflotte vor achtzig Jahren
Als die Schiffe sanken – Scapa Flow 1919
Jutta Winckler

Die Forderungen der Sieger des Ersten Weltkrieges bezogen sich nicht bloß auf Zahlungen im engeren Sinne, sondern auch auf die Auslieferung ganzer Teile der deutschen Volkswirtschaft. Als ein besonders gravierendes Kapitel mag hierbei das Schicksal der maritimen Kompetenz des Deutschen Reiches erscheinen, das sich in wenigen Jahrzehnten mittels gewaltiger Anstrengungen zu einer Seemacht entwickelt hatte, deren militärische und zivile Leistungsfähigkeit 1914 im weltweiten Vergleich nur noch von England übertroffen wurde.Welch ein Sturz vier Jahre später! Ende 1918 klagt ein bayerischer Historiker, der Marcks-Schüler Karl Alexander von Müller, in den Süddeutschen Monatsheften: "Mit über dreihundert Kielen war die deutsche Flotte in den Krieg eingetreten als die zweitstärkste der Welt; nur die alte Flotte Großbritanniens war ihr noch überlegen. Die junge Waffe hatte vor Stolz und Ehrgeiz gebrannt, sich mit dem ruhmvollen Feind zu messen. (…)

Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Seefahrt

Die Waffenstillstandsbedingungen vom 11. November bestimmten nun, daß zehn Schlachtschiffe, sechs Schlachtkreuzer, acht leichte Kreuzer und fünfzig der neuesten Zerstörer, alle vom Feinde ausgewählt, entwaffnet und in neutralen oder feindlichen Häfen eingeschlossen werden sollten. Alle Unterseeboote sollten ihnen binnen vierzehn Tagen gleichfalls folgen. Sämtliche übrigen Kriegsschiffe entwaffnet in deutschen Flottenstützpunkten, nach Weisung der Verbündeten, versammelt und von ihnen überwacht werden. (...)

Am Abend des 15. November traf die deutsche Abordnung im Kriegshafen von Rosyth ein. Der englische Oberbefehlshaber Sir David Beatty empfing sie in der Kajüte seines Flaggschiffs, der 'Königin Elisabeth', unter dem Bild Admiral Nelsons. Zwischen ihm und dem Konteradmiral Meurer stand auf dem Tisch die Statuette eines Löwen – zur Erinnerung an sein früheres Flaggschiff 'Lion', das 1916 in der Skagerrak-Schlacht von deutschem Geschütz versenkt worden war. Er führte die Verhandlungen mit eisiger Kälte; kein Laut der Ritterlichkeit durfte sich regen. Rundum ankerten in der eisigen Winternacht die stählernen Kolosse der englischen Grand Fleet; ihre Lichter blinkten im Dunkel, die Stimme ihrer Nebelhörner und das Echo ihrer Glocken hallten über das Wasser. In ihrer Mitte rangen fünf deutsche Offiziere bis zum 16. abends um die Einzelheiten des Schauspiels, in welchem nach Englands Willen der Traum der deutschen Seemacht zu Ende gehen sollte. Am Donnerstag den 21. November war der vereinbarte Tag. Früh morgens, einige Minuten vor vier Uhr, begann die englische Große Flotte, an der Spitze die ‘Revenge’, die Ausfahrt aus dem Firth of Forth. An siebenhundert Kriegsschiffe lösten sich im Dunkel aus ihren Vertauungen und glitten in die offene See. Die Flotten von Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika waren darunter vertreten, auch wehten die Fahnen Frankreichs neben dem Sternenbanner der nordamerikanischen Union. Überwältigend aber war vor allen die Seemacht Britanniens. Die Riesenflotte schwamm in zwei endlosen Kolonnen dem Treffpunkt zu, wo sie die Deutschen erwarten wollte, sie war in Schlachtbereitschaft, die Bedienung an den Geschützen.

Gegen halb zehn Uhr tauchten die Umrisse der ersten deutschen Schiffe aus dem Nebel auf, langsam kamen sie näher. Auf ihren Masten sah man die schwarz-weiß-roten Flaggen mit dem Eisernen Kreuz wehen, ein britisches Luftschiff flog über ihnen. Der englische Kreuzer ‘Cardiff’ fuhr an ihrer Spitze und führte sie wie ein kleiner Eldrich eine Schar von Leviathans. So rückten sie zwischen die englischen Linien ein. Zuerst kamen die ‘Seydlitz’ unter Kommodore Taegert; hinter ihm die ‘Moltke’ und ‘Hindenburg’, die ‘Derfflinger’ und ‘von der Tann’ – auf ihren Namen der Kriegsruhm dreier Jahrhunderte. Rechts und links geleitete sie die ‘Fearless’ und die ‘Blonde’. Ihnen folgten, wie zur Parade, die neun stärksten Schlachtschiffe des Reiches, die fünf Dreadnoughts der Kaiserklasse: ‘Kaiser’ und ‘Kaiserin’, ‘Prinzregent Luitpold’, ‘König Albert’, ‘Friedrich der Große’, die ‘Bayern’als modernstes Großkampfschiff der Welt, mit 28.000 Tonnen und acht Sechsunddreissig-Zentimeter-Geschützen in vier gewaltigen Türmen. Dann folgten ‘Markgraf’, ‘Großer Kurfürst’und ‘Kronprinz Wilhelm’, auch sie grüßte kein Salut. Als man die ‘Königin Elisabeth’ Sir Beattys erreicht hatte, wurde dort die zerfetzte Flagge der ‘Lion’ gehißt, die britischen Mannschaften grüßten sie mit donnerndem Jubel.

Der lange Zug der deutschen Schlachtkreuzer glitt vorüber, gefolgt von den vierzig besten Zerstörern, Flottille um Flottille zog in exakter Marschordnung vorbei, eine furchtbare Armada, das Modernste, was Deutschland an Technik zu bieten hatte. (...) Um vier Uhr nachmittags ließ Beatty das Signal ’Sonnenuntergang‘ blasen, man grüßte die englische Flagge, im selben Augenblick sanken auf allen deutschen Einheiten die deutschen Fahnen. Es war ein Schauspiel, wie die Weltgeschichte noch keines gesehen hatte." Ein halbes Jahr später versenkte sich die im Flottenstützpunkt Scapa Flow internierte deutsche Kriegsflotte selbst.

Daß die Sieger die militärische Tonnage des Reiches auszuschalten trachteten, kann nicht wundern; freilich die offenbar jegliche maritime Kompetenz Deutschlands vernichten wollende Haltung England stand in krassem Widerspruch zu jenen Wilsonschen "Vierzehn Punkten", mit denen man das durchaus noch kampffähige Lager der Mittelmächte zum Strecken seiner Waffen verlockt hatte. In seiner Rede vom 8. Januar 1918 hatte Wilson im zweiten seiner Punkte die "völlige Freiheit der Schifffahrt in Frieden und Krieg auf den Meeren außerhalb der territorialen Gewässer" gefordert und unter den "Punkten" 11 bzw. 13 Serbien und Polen "freien gesicherten Zugang zum Meere" verheißen. Später sollten die Bestimmungen des Versailler Diktats bzw. anderer Pariser Vorort-"Verträge" auch der soeben konstruierten Tschechoslowakei "freien Zugang zum Meer" garantieren, wozu man Prag eine exterritoriale Enklave im Hamburger Hafen verschaffte, die skurrilerweise sämtliche weltgeschichtlichen Verwerfungen seit 1919 überdauerte.

Was es mit dieser Freiheit für die Unterlegenen auf sich hatte, lernte das ausgepowerte Deutschland unverzüglich kennen: die Blockade blieb weiter bestehen, Hunger und Krankheit rafften hunderttausende Frauen, Alte und Kinder dahin. Der Zugang zum Weltmarkt war versperrt, von Australien bis Mexiko rissen staatsförmige Kriegsgewinnler das Auslandsvermögen der dort aktiven deutschen Firmen entschädigungslos an sich. Um die horrenden Reparationen und Kriegsschulden bedienen zu können, wurden Export, internationaler Handel und Wandel die conditio sine qua non des Weimarer Systems. Doch die wichtigsten Handelspartner sperrten sich gegen den von Wilson so inbrünstig beschworenen freien Welthandel und bemühten sich nach Kräften, fremde Erzeugnisse von ihren Märkten fernzuhalten. Hatte es 1914 geheißen: "Nie wieder deutsche Ware!", so bediente sich die Nachkriegswelt, soweit sie sich vom antiteutonischen Oktroi "des Westens" hatte konditionieren lassen, sublimerer Mittel: Zollerhöhung, Erhebung von Zollnebengebühren in Form von Einfuhrumsatzsteuern oder Abfertigungsgebühren in absurder Höhe, Einfuhrverbote oder Importkontingentierungen, Beschränkung des Devisenverkehrs und Errichtung von Außenhandelsmonopolen oder gar fremden Zollgebietszonen innerhalb des Reichsgebietes (Saar, Danzig).

Eine besonders abgefeimte Maßnahme der Sieger traf die deutsche Handelsflotte, über deren Schicksal die Verhandlungen von Spa am 4. und 5. März sowie das Brüsseler Abkommen vom 14. März entschieden; mit ihr nahm der Abbau der zivilen maritimen Kompetenz des Deutschen Reiches seinen Anfang. Die enormen Erfolge der deutschen U-Boot-Waffe erbitterten die Briten aufs äußerste, hatte doch selbst deren eher halbherziger Einsatz die Insel in eine äußerst prekäre Lage gebracht. Vier verlustreiche Jahre ließen das Empire erstmals in den Abgrund blicken, bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Begrenztheit britischer Kraft erkennbar geworden. Nun sah man voller Angst-Haß die Gelegenheit gekommen, einen gefährlichen Konkurrenten, den potentiellen Hegemon des europäischen Festlandes, entscheidend zu schwächen, zumal man sich selbst einem "Diktat Washingtons" ausgesetzt sah: "Wir", schreibt der britische Diplomat und Publizist Harold Nicolson in seinem Buch "Peacemaking 1919", "waren damals alle von den USA abhängig, nicht nur was die Kriegs-, sondern auch was die Friedensbedürfnisse betraf."

Schon früh stand als Ziel "des Westens" die endgültige Wegnahme der deutschen Handels-Tonnage fest; die Verluste auf See sollten vom Reich "Tonne für Tonne" ersetzt werden, wozu man zunächst verhindern wollte, daß deutsche Schiffe dem alliierten Zugriff entzogen würden – ein Ziel, dem u.a. die Seeblockade diente. Schon das Waffenstillstandsabkommen vom 11. November 1918 bestimmte, daß sämtliche Schiffe in den besetzten Gebieten zurückzulassen seien. Marschall Foch fragte die deutsche Verhandlungskommission, ob zur Versorgung Deutschlands mit Lebensmitteln seine Handelstonnage "unter Kontrolle der Alliierten zur Verfügung gestellt werden" könne. Erzberger stimmte dem zu. In Trier trafen sich im Januar 1919 die Sachverständigen beider Seiten; M. Hurley, Vorsitzender des Schiffahrtsamtes der USA, hielt es für erforderlich, "die gesamte deutsche Handelstonnage der jetzt für die Weltversorgung verfügbaren Tonnage hinzuzufügen, um die Transporte sicherzustellen, die für die Versorgung der Welt einschließlich einer gewissen Versorgung Deutschlands erforderlich" seien. Reichskanzler Otto von Bismarck wird die Sentenz "Wer Welt sagt will betrügen" zugeschrieben, und selten traf sie so zu wie in diesem Fall.

Bereits am 11. Januar 1919 hatte der italienische Minister Crespi im Liverpooler Journal of Commerce getönt, daß "dieselben Grundsätze wie hinsichtlich der an Italien ausgelieferten österreichischen Handelsflotte auch Anwendung finden auf die heute über die ganze Welt zerstreuten 2,5 Millionen Tonnen deutscher Handelsschiffe. Alle diese Schiffe werden schließlich unter den Alliierten und den USA nach einem Schlüssel verteilt werden, der auf der Friedenskonferenz festgelegt wird."

Am 7. Mai 1919 wurde der deutschen Delegation in Versailles durch Clemenceau "das Buch des Friedens" übergeben; es enthielt für die deutsche Handelsflotte geradezu das Todesurteil. Nur wenige andere Bestimmungen dieses Diktats sind von ähnlich vernichtender Rigorosität. Im Artikel 231 hatte das Reich anzuerkennen, daß es "als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich ist, die die alliierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben."

Der Artikel 244 enthält Sonderbestimmungen über die Handelsflotte: es mußte das Eigentum an allen Handelsschiffen sowie ein Viertel der Fischereifahrzeuge übertragen werden; ebenso waren alle Schiffe abzuliefern, die sich noch im Bau befanden. Eine auf längere Jahre berechnete Schiffsbauverpflichtung zugunsten der Entente sollte schließlich dem Wiederaufbau der deutschen Seefahrt im Wege stehen. Artikel 327 nimmt Bezug auf die Wasserstraßen und Häfen des Reichs: den Alliierten waren Rechte und Ermäßigungen einzuräumen, auch die deutsche Binnenschiffahrtsflotte war teilweise abzuliefern, überdies wurden Elbe, Oder, Memel, Rhein und Donau "internationalisiert". Die Wegnahme des kolonialen Besitzes und der Überseekabel brachte Deutschland um seine Stützpunkte und Handelszentren.

Am 28. Juni 1919 erfolgte unter ultimativem Druck die Unterzeichnung des monströsen Machwerks durch die Reichsregierung; nachdem die Kriegsflotte sich selbst versenkt hatte, schoben die Sieger weitere Forderungen nach: Schwimmdocks, Kräne, Bagger, Schlepper und weiteres Hafengut war abzuliefern, dazu alle Tankdampfer und sogar die Segelschulschiffe. Der 10. März 1920 wurde als Abgabefrist festgesetzt; in der Folge dieses Kahlschlages kam es hunderttausendfach zu Entlassungen und Arbeitslosigkeit. England brachte in zwei Tagen einen Großteil der geraubten Schiffe unter den Hammer; sie wurden zu Schleuderpreisen versteigert, wobei man den Zuschlag auf britische Staatsbürger einschränkte.

Die deutschen Berechnungen beliefen sich für die gesamte abgelieferte Tonnage auf 7,3 Milliarden Goldmark; die Sieger waren nicht davon abzubringen, als Reparations-Gegenwert den lächerlichen Betrag von lediglich 749 Millionen Goldmark einzusetzen. Die ehedem größten Reedereien der Welt, die Hapag und der Norddeutsche Lloyd, behielten nur einen Bruchteil ihres Vorkriegsbesitzes; die deutschen Häfen hatten bloß 3,4 Prozent ihrer Gesamtbruttotonnage behalten dürfen. Die Hamburg-Südamerikanische Schiffahrtsgesellschaft, die Levante-Linie, die Kosmos-Linie und die Deutsch-Australische Schiffahrtsgesellschaft verloren sämtliche Schiffe; der Hansa- bzw. Ostafrika-Linie waren von ihren jeweils ca. 350.000 Tonnen je ein kleiner Dampfer verblieben. Die vormals deutsche Handelsschiffahrt teilten sich fortan mehr als ein Dutzend Siegerstaaten: von Argentinien bis Japan, von USA bis Belgien reichte der Interessentenkreis und selbst Finnen und Peruaner durften sich bedienen.

Maritime Kompetenz der Deutschen radikal zerstört

Der Anteil des Reichs an der Welthandelsflotte sank von 11,1 Prozent im Jahr 1914 auf 0,7 Prozent in 1920; im ersten Kriegsjahr stand Deutschlands zivile Seefahrt an zweiter Stelle hinter England, Versailles drängte sie auf den 13. Platz hinter Dänemark und Griechenland. So sah die von Wilson annoncierte "Freiheit der Schiffahrt" tatsächlich aus; zwar überzog das Menetekel von Versailles in der Folge sämtliche Bereiche des nationalen Lebens mit negativen Auswirkungen, doch keiner wurde mit solcher Radikalität zerstört wie die maritime Kompetenz der Deutschen. Im Gegensatz zu den Siegern von 1918 bzw. 1945 gibt es auf den Meeren der Welt keine nennenswerte deutsche Seefahrt mehr.


 
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