© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/99 16. Juli 1999


Estland: Wirtschaft und Gesellschaft orientieren sich am Westen
Morgengrau im Baltikum
Albrecht Rotacher

Bei den Parlamentswahlen Anfang des Jahres wurde Mart Laar, der 39jährige Vorsitzende der rechtskonservativen, vaterländischen Union, der als Urheber des estnischen Wirtschaftswunders gilt, als Chef einer Mitte-Rechts-Koalition an die Macht zurückgewählt. Sein Regierungsprogramm ist kurz und bündig: eine fortgesetzte Niedrigsteuerpolitik, einschließlich der von ihm durchgesetzten flachen Einheitssteuer ("flat tax"), die Jörg Haider auch in Österreich einführen will, makroökonomische Solidarität, verbunden mit einem Kurs der weiteren Westintegration und Stärkung der Verteidigungsausgaben und eine großzügigen Familienförderung in dem geburtenschwachen Kleinstaat von 1,6 Millionen Einwohnern.

In der Tat, die "Marktwirtschaft ohne Adjektive" wurde nicht, wie so oft lautstark angekündigt, in der Tschechischen Republik des Vlaclav Klaus verwirklicht, sondern dank eines überparteilichen Konsensus im nordbaltischen Estland, das seine Unabhängigkeit 1991 mit einem der niedrigsten pro Kopf-Einkommen Europas wiedererlangte und seither in einer furiosen nationalen Anstrengung, die viele Parallelen zum Deutschland der fünfizer und zum Japan der sechsziger Jahre aufweist, sich nachhaltig den wirtschaftlichen Aufschluß zum wesenverwandten Skandinavien erarbeitet.

Talsohle für die Wirtschaft ist längst durchschritten

Estland hat die Talsohle seiner Transformationskrise von 1992/93, als nach dem Verlust der russischen Absatzmärkte die Inflation 90 Prozent betrug und die Industrieproduktion um 27 Prozent fiel, längst überstanden. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt in den fünf Vorjahren um mehr als ein Drittel gefallen war, zeigte es 1995 erstmals ein deutliches Wachstum von knapp 3 Prozent, das sich ab 1996 auf ein Niveau zwischen 6,5 Prozent (1996 und 1998) und 12 Prozent (1997) jährlich einpendelte. Estland hat damit seither eine der am stärksten wachsenden Wirtschaft der Welt. Dank eines ausgeglichenen und mittlerweile überschüssigen Staatshaushaltes und fixer Paritäten (8:1) der Esten Krone an die DM wurde die Inflation auf 14 Prozent (1998) reduziert. Die Reallöhne stiegen 1998 um 7,3 Prozent. Verbunden mit der massiven Reorientierung des Außenhandels (70 Prozent) auf die EU (und Finnland und Schweden im Besonderen) erfolgte im Zuge der Privatisierung ein massiver Strukturwandel, der noch dramatischer als in den meisten anderen Reformstaaten den Anteil der Industrie stark verringerte (auf 20 Prozent der BIP und 28 Prozent der Beschäftigung) und den der früher unterdrückten Dienstleistungen und des Handels in kurzer Zeit erhöhte (auf 45 Prozent und 23 Prozent). Dabei blieb die formale Arbeitslosenrate mit 4 Prozent (1998) niedrig. Real liegt sie wohl eher bei 10 Prozent von Arbeitssuchenden, die jedoch zumeist keine Arbeitslosenhilfe erhalten. Hauptsächlich betroffen sind ältere Arbeitnehmer, die russischen Arbeiter der Großbetriebe der Sowjetära im Nordosten Estlands um Narwa und der agrarisch geprägte Südosten. Allerdings herrscht mittlerweile Facharbeitermangel im Nordwesten um die Hauptstadt Reval (Tallinn). Auch wirtschaftlich qualifizierte Hochschulabsolventen sind knapp.

Größtenteils wurden freigesetzte Arbeitskräfte jedoch von der Dynamik der privatwirtschaftlichen Initiativen (wobei die Schattenwirtschaft auf 13 Prozent des BIP geschätzt wird) absorbiert: Schon jetzt sind 50 Prozent der Esten in den 80.000 neuen oder privatisierten Klein- und Mittelbetrieben mit bis zu 100 Mitarbeitern beschäftigt. Dies sind zumeist Reparaturdienste, Bau- und Transportbetriebe, die Gastronomie und Handelsunternehmen aller Art. Der Gründerboom neuer Zuliefer- und Dienstleistungsbetriebe für die neuen Privatbetriebe setzt sich weiter beschleunigt fort. Die Privatisierung wurde energisch – noch umfassender als in Ungarn – nach der Treuhand-Methode vorangetrieben: Mittlerweile sind nahezu sämtliche estnischen Unternehmen in privater Hand. Der Anteil der Privatwirtschaft an der industriellen Wertschöpfung betrug schon 1995 50 Prozent, der Privatanteil am BIP 70 Prozent. Einer der Schlüsselfaktoren des estnischen Transformationserfolgs war sicherlich die systematische und fast ausnahmslos durchgeführte Treuhand-Methode von internationalen Massenausschreibungen, die angesichts marktgerechter Rahmenbedingungen in Estland auch bessere Ergebnisse zeigen konnte als im Ursprungsland, dem wiedervereinigten Mitteldeutschland. Sämtliche Staatsbetriebe wurden von der Privatisierungsagentur statistisch erfaßt, inventarisiert, nach standardisierten Betriebsprofilen bewertet und in internationalen Massenausschreibungen inseriert. Die Bewertung der Offerten erfolgte neben den fiskalischen, industriepolitischen und betriebswirtschaftlichen Kriterien auch nach denen des nationalen Interesses: So wurden unter den Auslandsinvestoren Westinteressen gegenüber Russen bevorzugt. Am stärksten kamen die engagiertesten Skandinavier zum Zug. Finnen (35 Prozent), Schweden (24 Prozent), gefolgt von Russen (6,3 Prozent) und den am baltischen Raum kaum interessierten Deutschen (1,8 Prozent) (Frankfurter Allgemeine, 04.11.1998). Deutsche Investitionen machen 16 Millionen Mark aus. Neben der Ruhrgas und Dynamit Nobel partizipieren vor allem Mittelständler (FrankfurteAllgemeine, 23.06.1997). Der Rest der deutschen Wirtschaft, einschließlich der Banken, verschläft das baltische Wirtschaftswunder. Die Investitionesquote betrug 1997 31 Prozent des BIP. Dies allein ist schon ein signifikanter Indikator, daß es sich bei Estlands nicht um die trügerischen Strohfeuer von Auslandskapitel begünstigter Schwellenländer handelt.

Mit einem kumulativen Investitionsvolumen von 560 US-Dollar pro Kopf (1989/96) an ausländischen Produktivkapital liegt Estland noch vor Ungarn und Tschechien, die in absoluten Zahlen führen. Die Auslandsinvestitionen estnischer Unternehmen (vor allem in Lettland, Litauen und Rußland) sind zwar noch bescheiden, belaufen sich aber schon auf 27 US-Dollar pro Kopf.

Als prominente Erfolgsgeschichten gelten u. a. die Umstrukturierung des zwischenzeitlich sowjetischen Textilkombinates Kreenholm (eine deutschbaltische Gründung aus dem Jahre 1857) – einer der größten Textilhersteller Europas – in Marwa durch einen kleinen mittelschwedischen Fabrikanten. Verarbeiteten ursprünglich 12.000 Arbeitnehmer uzbekische Baumwolle für den sowjetischen Markt, der seither auch wegen russischer Inmportsanktionen verschwunden ist, so werden heute von 5.000 Arbeitern Qualitätstextilien fast ausschließlich für den Westexport hergestellt (Le Figaro, 30.03.1998).

Die finnische Elcoteq stornierte ihre geplanten Investitionen in Malaysien und läßt jetzt von 1.900 Beschäftigten in Estland High-Tech-Komponenten für Mobiltelefone von Ericson und Nokia fertigen. Der an der Börse von Reval gehandelte größte in einheimischem Besitz verbliebene Industriebetrieb Norma produziert ebenfalls als Zulieferbetrieb Sicherheitsausrüstungen (u. a. Gurte) für PKw’s an Saab, General Motors (Opel Gleiwitz) und nach Rußland. In nur 70 km bzw. 320 km Entfernung von Helsinki und Stockholm und von St. Petersburg mit seinen 5 Millionen Verbrauchern lediglich 130 km ab der estnischen Ostgrenze (Narwa) entfernt, wurde Reval zum regionalen Hauptquartier für multinational operierende Firmen, darunter Nestle, der finnische Elcoteq und Coca-Cola. Nachdem die Banken als erste sämtliche privatisiert wurden, wurden die letzten Industriebetriebe, die Chemiefabrik Kiviter und die Destillerien Rakvere, Mol und Liviko 1998 verkauft. Es bleibt der Abschluß der Privatisierung der großen Infrastruktur- und Versorgungsbetriebe (die sich in Westeuropa zumeist noch in öffentlicher Hand befinden). Die Luftlinie Estonian Air ist nur noch zu 34 Prozent staatlich. Die Schiffahrtslinie Estonian Shipping ist seit August 1997 zu 30 Prozent in Aktien-Streubesitz (Volksaktien) und zu 70 Prozent an einen strategischen Investor verkauft. 49 Prozent des Eesti Telekom wurde von der schwedischen und der finnischen Telekom erworben, 24 Prozent wurden Anfang 1999 für 220 Millionen US-Dollar an der Börse verkauft.

Zur Vorbereitung der Privatisierung wurde die bislang eher marode Eisenbahn in ihre Personenverkehrs-, Fracht- und internationalen Teilgesellschaften aufgeteilt. Der modernisierte Passagierhafen von Reval, der nächstgelegene Frachthafen von Munga, und der neu erschlossene Massenguthafen auf dem ehemaligen sowjetischen Marinestützpunkt Paldiski sollen ebenfalls bald veräußert werden. Die Elektrizitätserzeuger und -verteiler wurden in 10 Einzelgesellschaften gegliedert. Sie sollen zusammen mit dem größten einheimischen Ressourcenlieferant, der Estnischen Löschiefergesellschaft, noch in diesem Jahr privatisiert werden. Eesti Gas wurde im Sommer 1998 zu 10 Prozent an die finnische Gasgesellschaft verkauft. 42 Prozent der Anteile werden bereits von der Ruhrgas und der Gazprom gehalten.

Der estnische Bankensektor erfuhr 1998 seine letzte große Konsolidierung. Die fünf größten Banken fusionierten zu drei marktbeherrschenden Instituten: es sind dies einmal die Hansabank und Hoin, die zusammen 50 Prozent des Bankenmarktes ausmachen, dann die von der Zentralbank erzwungene Fusion der angeschlagenen Forex-Bank mit der Investitionsbank, sowie schließlich die Ühisbank, ihrerseits die 1994 erfolgte erfolgreiche Fusion von 10 Kleinbanken, die in der Bankenkrise von 1992 Schiffbruch erlitten hatten.

Nach diesen Amalgamierungen übernahmen schwedische Banken nach einem preistreibenden Börsenkampf kontrollierende Anteile der zwei größten Institute. Die Föreningssparbanken (jetzt: Swedbank) übernahm 48 Prozent der neuen Hansabank (die ihrerseits zuvor auch die Deutsch-Lettische Bank in Riga gekauft hatte), und die Skandinaviska Enskilda Banken (SEB), die Hausbank der Wallenbergs, erwarb 32 Prozent der Ühisbank als Teil ihrer baltischen Expansionsstrategie zu der auch ähnliche Anteilspakete an den größten Geschäftsbanken Lettlands (Unibanka) und Litauens (Vilnius Bank) gehören (Frankfurter Allgemeine und Neue Züricher Zeitung, 19.11.1998, Frankfurter Allgemeine, 10.10.1998).

Der Bankensektor ist privat und solide umstrukturiert

Hatte Estland vor der Bankenkrise von 1992 noch 42 Institute besessen, war deren Zahl nach der Krise halbiert. Anfang 1998 galt das Land mit elf unabhängigen Banken noch als "oberbanked". Nach drei mehr oder weniger freiwilligen Fusionen und einem Konkurs bleiben Ende 1998 nur noch sieben, davon die beiden führenden Häuser unter schwedischer Regie. Damit dürfte Estlands Finanzsektor weitgehend konsolidiert und gegenüber aktuellen und künftigen russischen Krisen immunisiert sein. Estlands Industriestruktur entspricht nach ihrer dramatischen Restrukturierung und Privatisierungen dem komparativen Vorteilen seiner Volkswirtschaft. Von der russischen Krise sind dank der weitgehend vollzogenen Westorientierung der Exporte nur wenige Sektoren betroffen. Der Boom im Baltikum und insbesondere für die Esten scheint auch für die nächsten Jahre auf dieser Grundlage stabil.


 
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