© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/99 16. Juli 1999


Lebensschutz: Die Abtreibungspille "Mifegyne" bleibt auch nach ihrer Zulassung umstritten
Krisensymptom des Individualismus
Martina Zippe /Volker Kempf

Ab Oktober 1999 soll die Abtreibungspille "Mifegyne" auch in Deutschland zur Verfügung stehen. Anfang diesen Monats wurde das Präparat vom Bundesinstitut für Arzneimittel zugelassen. Damit ist außer der operativen Methode des Schwangerschaftsabbruchs erstmals eine "medikamentöse" Abtreibung möglich.

Bis zur siebten Schwangerschaftswoche kann "Mifegyne" angewandt werden. Die Schwangere erhält das Mittel einzig in Frauenarztpraxen und Kliniken. Die Wirkung des Schwangerschaftshormones Progesteron, das für die Versorgung des Ungeborenen wichtig ist, wird blockiert, und die Gebärmutterschleimhaut stirbt ab. Für das Kind bedeutet das nach Angaben der Medizinerin Claudia Kaminski, Vorsitzende der "Aktion Lebensrecht für alle", ein zwei Tage währendes Verhungern, Verdursten und Ersticken. Anschließend muß die Frau in der Klinik das Medikament Prostaglandin schlucken, ein Wehenmittel, um das tote Kind auszutreiben. Dieses Mittel ist noch nicht für die Abtreibungspille zugelassen, wodurch ein rechtsfreier Raum entstand. Bei dieser Form der Abtreibung können Blutungen, Übelkeit und Krämpfe auftreten, weshalb direkt ein Medikamenten-Cocktail aus Beruhigungs- und Schmerzmitteln verabreicht wird. Die Blutungen können zwei Wochen andauern.

Die Abtreibungspille wurde in Frankreich von der Firma Roussel Uclaf unter der Bezeichnung "RU 486" entwickelt. Die Frankfurter Hoechst AG erwarb die Mehrheit der Roussel-Anteile. Schnell geriet der weltweit agierende Konzern ins Zielfeuer der Abtreibungsgegner. Diese erreichten in den USA durch Boykotte von Roussel-Medikamenten, daß dort die Abtreibungspille nicht zugelassen wurde. Aufgrund des Drucks verkaufte Hoechst die Rechte an dem Mittel unter dem Namen "Mifegyne" an das ehemalige Roussel-Vorstandsmitglied Eduard Sakiz. Der beantragte nach der Zulassung auf dem französischen, englischen und schwedischen Markt gleiches für Deutschland und weitere EU-Länder, wo immer dies die jeweilige Regierung befürwortete. Die rot-grüne Bundesregierung hatte für die Abtreibungspille grünes Licht gegeben. In Deutschland wurde dieses als "Medikament" bezeichnete Tötungsmittel aufgrund eines Gesetzes zugelassen, welches vorschreibt, daß Medikamente, die bereits in einem Land der EU erlaubt sind, auch von den anderen EU-Ländern anerkannt werden. Der CDU-Politiker Norbert Geis hatte noch vergeblich im Bundestag beantragt, daß das Arzneimittelgesetz nicht für "Tötungsmittel" gelten dürfe.

Die kirchlichen Reaktionen auf die Zulassung der Abtreibungspille in Deutschland waren nicht einheitlich. Während die katholische Kirche sie ebenso wie die Freikirchen scharf verurteilte, hielt sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bedeckt und wollte die Zulassung nicht kommentieren. Die Bischöfin der evangelisch-lutherischen Landeskirche von Hannover, Margot Kässmann, stimmte der Zulassung sogar zu. Hartmut Steeb von der Deutschen Evangelischen Allianz und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Lebensrecht (AGL), in der zwölf überregional arbeitende Lebensrechtsgruppen zusammengeschlossen sind, kritisierte hingegen, daß ein chemisches Produkt, das ausschließlich zur Tötung von Menschen bestimmt sei, zu einem Medikament erklärt wurde. Dies nannte auch der Generalsekretär des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Eckhard Schaefer, einen Skandal. Häufig wurde kritisiert, daß das Bundesinstitut für Arzneimittel mit der Zulassung für "Mifegyne" als "Tötungsmittel" klar seine Kompetenzen überschritten habe. Der katholische Erzbischof von Köln, Kardinal Meißner, warf dem Bundesinstitut sogar Rechtsbruch und Pflichtverletzung vor. Die Bischöfe würden "keine Ruhe geben" und alles versuchen, um das Bewußtsein für den Lebensschutz weiter zu schärfen. Die Europäische Arbeitsgemeinschaft für Lebensrecht (European Prolife Forum), eine Arbeitsplattform von 46 Lebensrechtsverbänden aus 20 Ländern, bezeichnete es als schändlich, daß fünfzig Jahre nach Ende der Nazibarbarei wieder ein Menschen-Tötungsmittel eingeführt wurde.

Politikerinnen von SPD und Grünen begrüßten die Einführung von RU 486 meist mit dem Hinweis darauf, daß es "eine schonendere Methode" sei als eine operative Abtreibung. Die bayerische Gesundheitsministerin Barbara Stamm (CSU) bedauerte hingegen die Zulassung der Abtreibungspille. Diese stehe im Widerspruch zur Verpflichtung des Staates, ungeborenes Lebens bestmöglich zu schützen. Vor allem sei zu befürchten, daß damit das geltende Beratungsmodell unterlaufen werde. Dieser Einwand ist stichhaltig. Da Mifegyne spätestens sieben Wochen nach Beginn der Schwangerschaft eingenommen werden muß, bleibt nach dem Erkennen der Schwangerschaft kaum Zeit für die gesetzlich vorgeschriebene dreitägige Bedenkfrist zwischen der Schwangerenkonflikt-Beratung und der Abtreibung.

Insbesondere in Kreisen der rot-grünen Bundesregierung ist häufig von einer Entscheidung zum Wohl der Frauen die Rede. Die Perspektive des Kindes wird dabei nahezu völlig ausgeblendet. Der Sterbeprozeß des Verhungerns, Verdurstens und Erstickens des Kindes zieht sich über zwei Tage hinweg. Entsprechend deutlich stellen gerade Geistliche Vergleiche mit Vernichtungsmethoden der Nationalsozialisten an Juden und anderen Volksgruppen an.

Auch für die Frau kann die Abtreibungspille kaum als schonend bezeichnet werden, stellte die taz im Unterschied zur Bundesregierung fest. Die Abtreibung werde im Regelfall von schmerzhaften Krämpfen begleitet. Unter dem seelischen Aspekt ist die Abtreibung mit RU 486 entschieden härter als eine chirurgische Abtreibung, darin sind sich Ärzte einig. Die Frau müsse die Abtreibungspille selbst nehmen und könne nicht den Arzt für einen Eingriff verantwortlich machen. Außerdem sehe sie oftmals das abgetriebene Kind in einer Schale liegen. Ein Anblick, der erschüttern kann.

Aufgrund der seelischen Belastung, die oft unterschätzt wird, lehnen zum Teil selbst Feministinnen "Mifegyne" ab. Während die konservative Welt den Erfinder fast als Heiligen darstellt, erstaunt die linke taz mit Überschriften wie "RU 486 macht ungewollt Schwangere auch nicht glücklich" und "Ein Mythos verblaßt". Zunächst hat die Emanzipationsbewegung für erleichterte Abtreibungsmöglichkeiten gekämpft; angesichts der nun durchgesetzten Abtreibungspille scheint sie aber die gerufenen Geister nicht mehr loszuwerden. Die Konsequenzen der selbst durchführbaren Abtreibung werden nun deutlich: die psychische Überforderung.

Geblieben sind bei der taz allerdings die Sprüche: "Männer sind Schweine". Bei aller Polemik im Ton kommt hier die weibliche Angst zum Ausdruck, mit der Schwangerschaft vom Mann allein gelassen zu werden. Genau gesehen ist in einer individualistischen Gesellschaft ein ungewolltes Kind für beide Geschlechter "hinderlich": Es kostet Zeit und Geld, behindert die Selbstentfaltung im beruflichen Leben und gefährdet den sozialen Aufstieg. Entsprechend groß wird der Druck empfunden, eine Abtreibung zu erwägen. Da die Gesetzeslage in jedem Falle die Straffreiheit vorsieht, kann die Frau kaum den Druck des Mannes mit dem Hinweis abwehren, daß er sie zu einer Straftat anstifte.

Die Folge der Betonung der Individualinteressen gegenüber denen der Gemeinschaft hat zu einem Geburtenrückgang in der deutschen Bevölkerung geführt. Um die damit verbundene Vergreisung der Gesellschaft zu stoppen, ist ein hohes Maß an Zuzügen von Ausländern notwendig geworden, was gleichzeitig Integrationsprobleme mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund fordern die Bevölkerungswissenschaftler Meinhard Miegel und Stefanie Wahl gemäß ihrem Buchtitel "Das Ende des Individualismus" eine stärkere Betonung der Gemeinschaft gegenüber den Interessen des Einzelnen. Das würde ein überschaubares Leben mit mehr Gemeinschaft bedeuten, beispielsweise durch die Belebung der Beziehungen zu Verwandten, Nachbarn, Freunden und Vereinskollegen. Ein derartiges soziales Netz könnte vielfältige Hilfe leisten bei der Versorgung und Erziehung von Kindern.


 
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