© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/99 16. Juli 1999


Kulturtagebuch: Günter Grass und die nichtbeachtete Sperrfrist
Verwilderung journalistischer Sitten
Thorsten Thaler

Was Sportlern die Maxime "Schneller, Höher, Weiter" bedeutet, ist für Journalisten das "Früher"-Prinzip; gewonnen hat, wer mit einer Geschichte früher auf dem Markt ist als die Konkurrenz. Dabei treibt das Bestreben, mit einer Information oder einer Meinung den Kollegen immer einen Schritt voraus zu sein, zuweilen recht seltsame Blüten – ganz zu schweigen von der damit einhergehenden Verwilderung publizistischer Sitten.

Jüngstes Beispiel dafür sind die Rezensionen des neuen Buches von Günter Grass "Mein Jahrhundert", genauer: das Erscheinen der ersten Besprechungen in der Süddeutschen Zeitung und der Woche. Obschon der Steidl Verlag in Göttingen als Sperrfrist für Rezensionen den 10. Juli vorgegeben hatte – Erstverkaufstag des Grass-Buches war der 7. Juli –, ignorierten einige Redaktionen diesen Termin geflissentlich. So brachte die Woche bereits am 2. Juli eine Rezension von Peter Glotz, die Süddeutsche zog einen Tag später nach, und am 5. Juli meldete sich Volker Hage im Spiegel zu Wort – alle offenbar nach dem Motto: Sperrfrist hin oder her, Hauptsache wir haben die Nase vorn.

Den fettesten Vogel aber schoß die Welt am Sonntag  ab. Das seit dem Amtsantritt von Chefredakteur Kai Diekmann zunehmend sichtbarer zum Boulevardesken neigende Blatt druckte nicht nur schon am 20. Juni Auszüge aus dem Grass-Buch. Zum Verdruß des Steidl Verlages handelte es sich auch noch um einen ungenehmigten Vorabdruck, wie die Pressestelle auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT bestätigte. Beim Göttinger Hausverlag von Günter Grass ist man verständlicherweise stinksauer, das Vorgehen der Welt am Sonntag entspreche nicht den "journalistischen Gepflogenheiten". Besonders verärgert ist man dort auch deshalb, weil Steidl einen Exklusiv-Vertrag über die Abdruckrechte mit der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit abgeschlossen hatte. Dort schauten Chefredaktion und Feuilleton nicht minder düpiert aus der Wäsche.

Auf die Welt am Sonntag dürfte jetzt eine deftige Honorarforderung zukommen. Vielleicht hüllte sich die Chefredaktion der Springer-Zeitung deswegen gegenüber der JUNGEN FREIHEIT bis zum Redaktionsschluß dieser Ausgabe am Dienstag abend in Schweigen.


 
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