© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/99 16. Juli 1999


Gestalt des Politischen
von Baal Müller

n seiner bekannten Schrift "Der Begriff des Politischen" (1932) bestimmt Carl Schmitt dieses in struktureller Anlehnung an andere Bereiche durch den Aufweis einer charakteristischen, nur ihm eigenen Duplizität: "Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. Die Frage ist dann, ob es auch eine besondere, jenen anderen Unterscheidungen zwar nicht gleichartige und analoge, aber von ihnen doch unabhängige, selbständige und als solche ohne weiteres einleuchtende Unterscheidung als einfaches Kriterium des Politischen gibt und worin sie besteht."

Diese spezifisch politische Unterscheidung liegt für Schmitt in dem unmittelbar evidenten und daher gleichsam urphänomenalen Gegensatz von Freund und Feind. Zu dessen Bestimmung bedarf es nicht erst einer subtilen philosophischen Explikation; er ist auch keine erschöpfende Definition des Politischen oder seine abstrakte Herleitung aus irgendwelchen Axiomen, sondern er stellt lediglich ein empirisches Kriterium dar, das aus der existenziellen Verfassung des gegenwärtigen und geschichtlichen Menschen folgt.

Die Erkenntnis von Freund und Feind ist jeweils an eine konkrete Situation gebunden und reagiert auf die Negation der eigenen Existenz durch eine andere soziale Gruppe, die in neuerer Zeit meistens – wenngleich nicht notwendig – ein anderes Volk bzw. dessen Regierung ist. Grundsätzlich kann jede Gruppierung anderen gegenüber in befreundeter oder feindschaftlicher Weise auftreten und damit einen politischen Charakter annehmen: "Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren. [...] Eine religiöse Gemeinschaft, die als solche Kriege führt, sei es gegen die Angehörigen anderer religiöser Gemeinschaften, sei es sonstige Kriege, ist über die religiöse Gemeinschaft hinaus eine politische Einheit."

Das Politische steht somit nicht als eigenes Sachgebiet neben anderen Teilbereichen der Gesellschaft, sondern es "kann seine Kraft aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Lebens ziehen". Sein Wesen ist nicht von einer bestimmten Sache her, bzw. von einem Interesse an dieser Sache, sondern ausgehend vom Grad oder der Steigerung dieses Interesses zu verstehen. Es bezeichnet die Intensität, mit der ein Zusammenschluß von Menschen sein spezifisches Interesse verfolgt, und beginnt genau in dem Augenblick, in welchem sich die Gruppe am "Ernstfall" orientiert, also Leib und Leben ihrer eigenen Mitglieder wie auch solcher der gegnerischen Gruppen – die dadurch zu Feinden werden – zu opfern bereit ist.

Wenn der polare Charakter der beiden politischen Kategorien auf die philosophische Tradition verweist – auf die drei klassischen Disziplinen der Logik, Ethik und Ästhetik mit ihren binären Distinktionen von Wahr/Falsch, Gut/Böse und Schön/Häßlich –, so hat die Moderne in der existenziellen, ja existenzialistischen Fassung dieser Kategorien ihren Einzug in das Schmittsche Denken gehalten. Der Ausnahmezustand entwickelt seine eigene zwingende Logik; der Bombenhagel des Gegners und das Dekret des Siegers lassen eine Diskussion über Feind und Feindschaft gar nicht erst aufkommen.

Carl Schmitts begriffliche Fassung des Politischen ist ungeachtet ihrer labyrinthischen Bezüge und Konsequenzen ebenso einfach wie genial. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine an extremen Situationen und blitzschnellen Entscheidungen orientierte Theorie auch für den heutigen, stark verfestigten und überdeterminierten Zustand noch taugt.

Die Entscheidung ist zumeist nicht mehr unmittelbar und existenziell, sondern weltanschaulich-abstrakt bedingt; sie ist keine Reaktion des Souveräns, der über den Ausnahmezustand gebietet, sondern Ergebnis eines langen, viele verschiedene Instanzen und Interessengruppen beschäftigenden Prozesses, ja sie ist überhaupt kaum noch als solche wahrzunehmen, sondern eher als verwässerter Kompromiß, an dem alle mitgewirkt haben und für den keiner verantwortlich sein will.

Schmitt hat diese Problematik deutlich erkannt und immer wieder mit äußerster Schärfe formuliert. Ihren Ursprung sah er vor allem im Liberalismus und seiner institutionellen Ausformung als Parlamentarismus. Der Liberalismus drückt sich in seinen Augen um die Bestimmung von Freund und Feind, mithin um das Politische, herum; er hat infolgedessen niemals ein eigenes politisches System entwickelt, sondern nur Vorschläge zur Eindämmung und Ausbalancierung politischer Kräfte gemacht; er besitzt demzufolge kein positives Konzept des Staates und begnügt sich mit der Begrenzung staatlicher Gewalt; er verabsolutiert das Individuum, dessen Rechte er gegen politische Einbindungen, die vor allem als Zwang und Unterdrückung wahrgenommen werden, zu verteidigen vorgibt, und er sucht die politischen Kategorien überhaupt aufzulösen, etwa durch seine Berufung auf die Selbstheilung und Selbstorganisation des Marktes. Ziel des Liberalismus ist nach Schmitt die einheitliche, globale Weltzivilisation, die zivile Bürgergesellschaft, in der die verschiedenen Kulturen nicht mehr als unversöhnliche Feinde aufeinanderprallen, sondern allenfalls ein folkloristisches Lokalkolorit liefern und, wie alles andere, als Waren gehandelt werden. Schmitt bestreitet nicht, daß eine solche Gesellschaft im Prinzip eines Tages möglich werden und damit ein Ende der Politik überhaupt herbeiführen könnte; in dieser postpolitischen Welt gäbe es dann tatsächlich keine Feinde mehr, sondern nur noch Diskussionsgegner und ökonomische Konkurrenten – entscheidend ist aber nach Schmitt, daß es sie heute nicht gibt und daß alles, was in diese Richtung deutet, nur Propaganda ist, die allein dazu dient, durchaus handfeste politische Interessen und Motive hinter einer humanitären Maske zu verschleiern. Das Ergebnis ist lediglich die Bemäntelung und Verbrämung feindlicher Interessen, die per se solche bestimmter Gruppen sind, im Namen vorgeblich allgemeiner und universaler Ziele.

Militärisch führt die vollmundige "Ächtung" des Krieges zur Abkehr vom "gehegten" Krieg des klassischen Jus Publicum Europaeum bzw. zur Stigmatisierung und Perhorreszierung des Gegners, der als Verbrecher und Monstrum nicht mehr im Rahmen eines bestimmten Codex bekämpft werden kann. Falls der Gegner stark ist, folgt aus dieser Logik der totale Krieg; ist er hingegen schwächer und nur von regionaler Bedeutung, betrachtet man ihn als schwarzes Schaf der Staatengemeinschaft und sucht ihn durch "polizeiliche" oder sonstige Strafmaßnahmen zu disziplinieren (worin man allerdings den zeitgemäßen Versuch einer "Hegung" und Begrenzung des Krieges, wenngleich nicht mehr auf der Basis gleichberechtigter souveränder Staaten, sehen könnte).

Trotz seiner hohen Überzeugungskraft ist das Schmittsche Modell allerdings gerade wegen seiner Berufung auf existenzielle Evidenz und kategoriale Distinktion problematisch: Die Bedrohung durch den Feind ist nämlich nicht nur physisch zu verstehen und daher unmittelbar gewiß oder allenfalls durch Propaganda verstellt, sondern sie vollzieht sich heute vor allem als kulturelle Aushöhlung im Zeichen der Globalisierung. Die Crux ist, daß sie weniger von einem bestimmten "Feind", etwa dem "US-Imperialismus", angezettelt ist und erst recht nicht von denen ausgeht, die wir als "offizielle" Feinde betrachten; sie ist vielmehr eine Entfremdung, von der wir oft nicht recht wissen, ob sie uns von außen aufgezwungen oder eher die Konsequenz unserer eigenen Entwicklung ist. Unsere Kultur wird nicht primär von einer anderen, sondern vom Untergang regional differenzierter Kulturen überhaupt bedroht. Dieser Prozeß verschafft vielen von uns allerdings auch Vorteile und Annehmlichkeiten und erscheint gerade im Hinblick auf die unmittelbare physische Existenz nicht feindlich. Es ist daher in gewisser Weise leichter, gegen einen äußeren Feind im Schmittschen Sinne anzukämpfen, als gegen einen, in den wir uns partiell schon selbst verwandelt haben.

Diese Diffusion des Freund-Feind-Schemas kann mit den Mitteln von Schmitts existenziellem Dezisionismus deshalb nicht hinreichend erfaßt werden, weil sein Verständnis der modernen planetarischen Technik allzu traditionell und instrumentell ist und ihre Eigendynamik verkennt. Die Technik erscheint in Schmitts Kulturtheorie, wie er sie in dem Kapitel über Das Zeitalter der Neutralisierungen in seinem "Begriff des Politischen" skizziert, noch als eines – das vorläufig neueste – der "Zentralgebiete", die der europäische Geist in den vergangenen Jahrhunderten durchschritten hat. Diese Stufenfolge, die man heute als Abfolge von Paradigmenwechseln beschreiben würde, vollzieht sich nach Schmitt seit Beginn der Neuzeit vom theologischen über das metaphysische und moralische bis hin zum ökonomischen Paradigma des 19. Jahrhunderts, das zu Beginn des 20. von dem der Technik abgelöst wurde.

Triebfeder dieser Entwicklung ist der menschliche Wille, endlich ein gesichertes geistiges Fundament zu erlangen; die Streitigkeiten der vergangenen Epoche werden bei einem solchen Wechsel des Paradigmas für unlösbar erklärt, und zumindest die jeweilige kulturelle Avantgarde wendet sich einem neuen Gebiet zu, von dem man "Neutralität" erwartet, auf welchem man also gesicherte und unstrittige Grundüberzeugungen zu erlangen hofft. Bald erhebt sich der Streit aufs Neue und der für befriedet gehaltene Bezirk wird ebenfalls ein Kampfplatz der Meinungen, Schulen und Richtungen. Die Technik aber kann als Zentralgebiet schon deshalb nach Schmitt nicht neutral sein, weil sie nur formaler, nicht inhaltlicher Natur sei und aufgrund ihres rein instrumentellen Wesens jedem Interesse und jeder Weltanschauung dienen könne. Es komme nur darauf an, wer sich ihrer am schnellsten und effektivsten bemächtigt, sie für seine Zwecke einsetzt und als politisches Werkzeug verwendet.

Schmitt hat richtig gesehen, daß die Technik kein Zentralgebiet wie die vorangegangenen ist, das man nach einiger Zeit hinter sich lassen kann, und er begründet dies damit, daß sie keine durchgehend bestimmte Weltanschauung, sondern ein unbegrenzt verwendbares Verfahren darstellt. Indem Schmitt aber den angeblich instrumentellen Charakter der Technik hervorhebt, verkennt er den eigentlichen Unterschied zu den übrigen Zentralgebieten: die Eigendynamik der Technik, die das Instrumentelle transzendieren und sich der menschlichen Verfügung entziehen kann.

Die Technik ist deshalb fundamental von den vorangegangenen Gebieten unterschieden, weil sie Veränderungen und Umwälzungen bewirken kann, die künftigen Generationen einen Paradigmenwechsel wie in früheren Zeiten verbieten. Sie liefert keinesfalls nur die Werkzeuge für Freund und Feind, sondern sie vermag sich beide gleichsam anzuverwandeln und zeigt bald das eine, bald das andere Gesicht.

 

Baal Müller, 29, lebt als freier Publizist in München. Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über das Verhältnis des Stefan-George-Kreises zur Philosophie.


 
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