© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/99 23. Juli 1999


Schwangerenberatung: Die Zahl der Abtreibungen steigt in der Tendenz weiter
Ein hohes Maß an gemeinsamer Schuld
Karl-Peter Gerigk/Ralf Fritzsche

Ein alter Backsteinbau mit verwitterten Holztüren – ein vergilbtes Schild weist darauf hin, daß es hier eine medizinische Versorgung geben soll. Das Hauptportal ist verschlossen. Hinter einer rostigen, quietschenden, schmiedeeisernen Tür geht ein Pfad rechts ab. Durch tiefhängende Äste alter Kastanienbäume und Buchen verborgen findet sich ein kleines Fenster, hinter dem eine ältere, dunkelhaarige Frau sitzt. Spinnen weben ihre Netze vor den Scheiben der Rezeption des "Caritas-Krankenhauses" in der Galenusstraße im Berliner Bezirk Pankow. "Ja", sagt die Frau hinter dem Glas, "die Abtreibungsberatung ist hier, Haus drei im ersten Stock." Hier soll es den Schein geben, mit dem man ein Kind abtreiben darf.

Der Papst hat es in seinen Briefen geschrieben, und die deutschen Bischöfe haben es als Zusatz auf dem Schein vorgesehen: die Bestätigung für eine Beratung im Sinne der gesetzlichen Vorschriften für eine straffreie Abtreibung soll nicht für eine solche benutzt werden können. Aber was heißt hier "kann". Kann "Mann" – also die deutschen Bischöfe – denn etwas dagegen tun, wenn nach gut gemeinter Beratung die Frau mit dem Schein dennoch das tut, was sie nicht kann – oder besser gar nicht können dürfen soll. Sie kann freilich zu einem Arzt gehen, der auf der Grundlage der Bescheinigung trotz des Zusatzes des Papstes dann doch eine Abtreibung vornimmt. Oder sie kann neuerdings sogar durch eigenes "Handanlegen" unter ärztlicher Aufsicht mittels der Abtreibungspille RU 486 die Tötung des Kindes selbst vornehmen. Sie kann mit dem Schein tun, was sie denkt tun zu müssen, auch wenn der Papst und die deutschen Bischöfe das wohl eher nicht möchten. Und auch die katholischen Beratungsstellen, wie die Konfliktberatungstelle der Caritas in Berlin-Pankow, beraten erklärtermaßen mit dem Ziel, das Leben des ungeborenen Kindes zu retten.

Die Beratungen für die Frauen, die sich mit dem Gedanken tragen, ein Kind abzutreiben, werden bei der Caritas in Pankow von Maria Habel durchgeführt. Sie ist ausgebildete Sozialarbeiterin und in der Beratungsstelle seit der Wiedervereinigung beschäftigt. Am Anfang, kurz nach der Einheit, hat sie die Sozialberatung im Krankenhaus vorgenommen. Aber schon bald zeichnete sich ab, daß so viele Frauen die Beratungsstelle aufsuchen, daß sie alleine mit dieser Aufgabe vollkommen ausgelastet ist. Als hauptamtliche Schwangerenberaterin absolvierte sie eine Zusatzausbildung, die für Beraterinnen vom Caritasverband durchgeführt wird.

"Wir beraten hier Frauen mit allen Arten von Konflikten in bezug auf ihre Schwangerschaft. Manchmal sind es einfach Fragen, wie sich das Mädchen oder die junge Frau verhalten kann, wenn ihr Freund sie verläßt und das Kind ablehnt oder auch wenn die Eltern sie unter Druck setzen", schildert Frau Habel die Probleme der Frauen. Manchesmal sei es auch so, daß der Mann aus finanziellen oder beruflichen Gründen das Kind nicht will. Dabei seien es aber nicht immer sozial schwache Familien, sondern auch durchaus wohlhabende Frauen, die Unannehmlichkeiten durch Kinder vermeiden wollten.

In sozial schwachen und auch zerrütteten Familien ist es oft nur die Mutter, die Rat sucht. Sie will wissen, wie sie denn ihr kleines Kind mit ihren Mitteln und Möglichkeiten überhaupt erziehen und auf die "Leistungsgesellschaft" vorbereiten kann. Es werde oft angeführt, daß das Kind ja gar keine Perspektive habe, auf gute Schule, Ausbildung, Beruf und geordnetes Leben. "Hier wollen wir Perspektiven eröffnen und die Zukunftsängste nehmen", sagt Frau Habel.

Relativ ältere Frauen, über dreißig, hätten oft gesundheitliche Bedenken ein Kind auszutragen. In den letzten drei Jahren sind es aber vermehrt junge Mädchen, die zur Caritas in Pankow kommen. Sie sind zwischen 15 und 25 Jahre alt. Aber es gibt auch noch jüngere, so um die dreizehn. Hier werden die Probleme anders gesehen. Oft spielt die Frage eine Rolle, ob die junge Frau noch einen Schulabschluß bekommen kann, wenn sie das Kind austrägt und wie es dann beruflich und finanziell weitergehen kann. Die Beraterin versucht auf alle Fragen einzugehen und Antworten zu finden. Die Frauen, die zu der Stelle in Pankow kommen, sind in der Mehrzahl weder besonders jung noch besonders arm. Die meisten sind zwischen 25 und 35 Jahre alt und viele stehen auch im Berufsleben. "Es gibt eben auch Gründe für Unsicherheiten bei einer Schwangerschaft, die sich mit dem Bewußtsein der Frauen in der heutigen Gesellschaft erklären lassen", erklärt die Beraterin. Sicherlich gäbe es Menschen, die durch ein Kind nicht ihrer Figur, ihrem Aussehen oder ihrer Karriere schaden wollen.

Die wenigsten wollen nur den Abtreibungsschein

Problemfälle sind auch nicht nur alleinstehende oder verlassene Frauen, die in die Beratungsstelle in der Galenusstraße kommen. Oft sind die Männer und Familienangehörigen bei ihnen, und kümmern sich mit um den Konflikt, den die Frau durch ihre Schwangerschaft empfindet.

In einem Jahr sind es etwa 600 Frauen, die mit diesen Schwierigkeiten zu Frau Habel kommen. Nur etwa 66 davon formulierten konkret die Frage: soll ich abtreiben oder nicht? So seien es auch nur zehn Prozent der Frauen, die nach der Beratung den Beratungsnachweis dann auch wirklich mitnehmen wollten, sagt die Sozialarbeiterin. Insgesamt sei die Zahl der Ratsuchenden in den letzten drei Jahren aber gestiegen. Dabei überwiegen die finanziellen Probleme der Frauen verbunden mit der Furcht, nicht richtig für ihr Kind sogen zu können: "Ich habe mich für mein Kind entschieden, aber ich weiß nicht wie es weitergehen soll." Daneben sind es auch immer wieder schlichte Partnerschaftsprobleme, mit denen auch Paare zur Caritas-Beratung kommen und sich Hilfe erwarten, berichtet Frau Habel.

"Kommt eine Frau zu uns, die vor der Frage steht – behalte ich mein Kind oder nicht? –, dann versuchen wir erst einmal eine Vetrauensbasis zu schaffen. Jeder Fall ist sehr individuell. Es geht darum, daß die Frau ihre konkrete Situation darlegt und erläutert, warum sie denkt, daß Kind gegebenenfalls abtreiben zu müssen. Dann können wir auch ganz gezielt Hilfe anbieten", beschreibt die Schwangerenberaterin ihr Bemühen. Es sind oft finanzielle Ängste. Hier erläutert die Beraterin den Frauen, daß neben der Sozialhilfe von 540 Mark und dem Erziehungsgeld von 600 Mark auch noch Stiftungsgelder von verschiedener Seite zu Verfügung stehen, gerade bei Anschaffungen der kostspieligen ersten Ausstattung für das Kind, wie Kleidung, Kinderwagen u.ä.m. Kindergeld und Unterhalt durch den Vater werden allerdings auf die Sozialhilfe in voller Höhe angerechnet. Aber die Kirche hat hier bei jedem Bischof einen Fond, der je nach der Lage der betroffenen Familien Geld zu Verfügung stellen kann.

"Daneben versuchen wir aufzuschlüsseln, was tiefliegende Gründe für die Frau sind, ihre Mutterschaft in Frage zu stellen. Wir schauen zum Beispiel, was für die Mutterschaft spricht und was dagegen. Auch versuchen wir die psycho-soziale Situation der werdenden Mutter zu analysieren und verborgene Gründe für eine emotionale Ablehnung bewußt zu machen."Aber diese seien bei jeder Frau eben anders und sehr spezifisch und oft schwierig und komplex, kennzeichnet Frau Habel ihre Erfahrung.

Bei allem Bemühen ist es nicht nachzuvollziehen, was eine Frau tut, wenn sie den Beratungsschein dann in der Hand hält. "Wir sehen die Frauen allenfalls auf den jeweiligen Stationen wieder und wissen dann wie die Beratung im Ergebnis verlaufen ist", sagt die Leiterin der Beratungsstellen der Caritas von Berlin Gabriele Hockertz. Die Frauen seien nicht verpflichtet, sich nach eine Abtreibung wieder bei der Beraterin zu melden. So ist eine Bestimmung des Erfolges der Beratungsstellen und der Arbeit der Beraterinnen und Berater nicht möglich. Die Frauen entscheiden alleine oder mit Partner und Familie über die Tötung des Kindes – und sie tragen auch ganz alleine die Verantwortung und die Konsequnzen ihrer Handlung, auch wenn man durchaus auch externe Faktoren für die Abtreibung verantwortlich machen kann.

So sehen die Beraterinnen auch ein gesellschaftliches System, das mit Schlankheitsidealen und Karrierevorstellung materielle Güter und unumschränkte Individualität als Freiheitskategorie idealisiert und monetäre Bewertungen von Arbeit, Freizeit und Leben zu Maßstäben macht, als verantwortlich für die Konfliktsituationen mancher Frauen.

Abtreibung wird auch als Recht der Frau verstanden

Häufig wird die Entscheidung über Leben oder Tod eines Kindes durch die Mutter beziehungsweise die Eltern als Freiheitsrecht argumentiert, nicht zuletzt sei es die emanzipierte Frau doch selbst, die über den Verlauf und die Ausgestaltung ihres Lebens entscheide. Hier werde jedoch die gesellschaftliche Bedingtheit des Individuums als Teil der Konsumgesellschaft übersehen.

Es ist nicht die Frau autonom oder alleine die Familie, welche die Entscheidung trifft, sondern das gesellschaftliche Bewußtsein, daß die Verantwortung trägt, für eine steigende Zahl von Abtreibungen. Für 1996 waren es nach den Angagen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden 130.899 legale Abtreibungen, mit steigender Tendenz für 1997, 1998 und 1999.

"Natürlich zieht die Frau persönlich ein hohes Maß an Schuld auf sich, wenn sie ein Kind durch einen Schwangerschaftsabbruch tötet", denkt Frau Hockerts laut und weiter: "Was die Bevölkerungsentwicklung und die Rentenfinanzierung anbetrifft, kann man ja die Grenzen öffnen und genügend ausländische Mitbürger integrieren. Ich bin dafür", spricht Frau Hockerts, und man glaubt hierin einen Anflug von Ironie erkennen zu können.

Eines wird hier jedoch nicht offen diskutiert. Die Frau trägt mit einer straffreien Abtreibung dennoch die psycho-soziale Konsequenzen. Der Zusatz auf dem Schein, der die Abtreibung ermöglicht und doch nicht ermöglichen "kann", hat seine Wirkung und Konsequenz gerade auch auf psychologischer Ebene, ob dies als "fair" gegenüber der Frau bezeichnet werden soll oder nicht. "Der Zusatz auf dem Schein erhöht sicherlich den psychischen Druck auf die Frauen, aber er dokumentiert doch die Auffassung, daß es der katholischen Kirche um den Schutz des Lebens geht", verdeutlicht Frau Hockerts ihre Ansicht.

Juristisch scheint der Zusatz im Sinne des geltenden Rechts in Deutschland keine Relevanz zu besitzen – was eher den gesunden Menschenverstand wundern muß. Ein Dokument, mit Unterschrift und Briefkopf und einer deutlichen Aussage ist nur teilweise im Sinne einer geltenden Rechtsauffassung wirksam und nicht im Sinne dessen, der dieses Dokument verantwortet – eine zwiespältige Situation, welche die Vertracktheit und den Winkeladvokatismus offenbart, der hier am Werk ist.

Es entspricht nicht dem gesunden Menschenverstand so zu verfahren, scheint inkonsequent und dient sicherlich nicht der psychologischen Gesundheit der Betroffenen. Nur kann man dies weder der Frau noch der Beratungsstelle noch denen vorwerfen, die das Leben eines Kindes schützen wollen. "Ursache sind die sich verändernden Wertmaßstäbe in unserem Staat und der Leistungsgesellschaft. Mehr Kinderspielplätze sind kein Zeichen von mehr Kinderfreundlichkeit, sondern eher eine Gewissensberuhigung und mit Geld öffentlich wirksam leicht zu initiieren", erläutert Frau Habel das Manko in unserem Bewußtsein und Handeln.

"Aber jeder Frau ist es klar, daß es sich um ihr Kind, ein Leben und einen Teil von ihr handelt. Von der Auffassung, es ginge nur um die chirurgische Entfernung eines Zellklumpens, die ich noch vor einigen Jahre angetroffen habe, sind wir heute entfernt," kennzeichnet sie einen Bewußtseinsprozeß. Dieses kann jedoch kaum ein Kennzeichen für einen Bewußtseinswandel in der Gesellschaft sein angesichts der schon hohen Zahl öffentlich bekannter Abtreibungen – von der Dunkelziffer derjenigen Frauen, die im Ausland abtreiben, ganz zu schweigen.

"Die Einstellung der Frauen, die hierher kommen, läßt sich wirklich nur schwer ablesen. Viele sind eher ängstlich und abwartend. Das ist aber eher ein Zeichen, daß die Entscheidung den Frauen nicht leicht fällt," meint die Beraterin für Mütter im Schwangerschaftskonflikt.

Es bleibt das ungute Gefühl, inwieweit Leben und Tod in der Entscheidungsfreiheit eines Einzelnen liegen kann und darf, wenn es sich dabei nicht um ihn selbst handelt – zumal in einem gesellschaftlichen Wertesystem, das in seinen wesentlichen Zügen das Leben nach monetären Kategorien beurteilt.


 
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