© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Mehr Demokratie
Karl Heinzen

"Soll die Demokratie nicht nur auf dem Papier stehen, braucht sie Papier", behauptet eine Anzeigenkampagne und bietet Menschen, denen ihre Zeit nicht teuer ist, weitere Lügen übers Telefon zum Nulltarif an. Was zunächst so klingt, als hätte eine Tarnorganisation der Bundeszentrale für politische Bildung den Kampf gegen den Cybertotalitarismus aufgenommen, ist aber wahrscheinlich nicht mehr als bloß ein Paradigmenwechsel in der Öffentlichkeitsarbeit der Gewinnmaximierer. Bislang konnte die PR davon ausgehen, daß die Menschen gerne konsumieren, dabei aber Gewissensbisse verspüren. Wer zum Beispiel Mineralwasser trinkt, löscht auf diese Weise zwar seinen Durst, weiß aber, daß er an Wasservorräten zehrt, die den Verbrauchern in der Sahel-Zone vorenthalten werden. Den Gewissenskonflikt kann entschärfen, wer zu Produkten der Marke Gerolsteiner greift: Er subventioniert damit die Bohrung von 111 Brunnen in Äthiopien, die Region in eine Oase verwandeln wird – vielleicht mit der Perspektive, sogar Franchise-Nehmer der deutschen Förderer zu werden.

Was Menschen auch produzieren und verbrauchen: Sie haben es zuvor der Natur entwendet und verfolgen einen anderen Zweck als den ursprünglich angelegten. Das ist Raubbau an unserer natürlichen Umwelt und zugleich Vergiftung derselben, das ist manchmal auch menschliche Anmaßung, den Naturkatastrophen unbedingt in den Arm fallen zu wollen. Dieses Bewußtsein, in zwei Jahrzehnten Gemeingut in Staat und Wirtschaft geworden, scheint gefährdet. Die Meinungsführer tendieren zu einer neuen Mitte, sie geben der Erhaltung zivilisatorischer Standards den Vorzug vor einer ökologischen Ernsthaftigkeit, die nur Eiferern nützt. Wer heute etwas verkaufen will, muß also den Nachweis führen, daß er mit seinen Produkten nicht mehr länger nur der Umwelt, sondern vor allem der Demokratie dient.

Doch Vorsicht: Gerade Papier ist ein Werkstoff, dem diese Unbedenklichkeit nicht zuerkannt werden kann: Es war Papier, auf das die Nazis ihre Losungen druckten, es war Papier, von dem sie ihre Reden ablasen und es war Papier, mit dem sie ihre grausamen Befehle erteilten. War Papier früher ein Material, daß sich von braunen (und roten) Diktatoren problemlos mißbrauchen ließ, so ist es heute ein Relikt aus den Anfängen unserer demokratischen Ordnung, das ihre Fortentwicklung und Vollendung hemmt. Eine direkte Partizipation aller Bürger an den öffentlichen Entscheidungen ist unterdessen möglich, die elektronische Demokratie steht auf der Tagesordnung. Der technologische Trend läuft gegen das repräsentative Verfassungsmodell. Wer dennoch Papier propagiert, will die Mitwirkung der Menschen am staatlichen Leben durch zeitraubende Informationsangebote und Wahlverfahren erschweren. Er dient dem Parlamentarismus, aber nicht der Demokratie.


 
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