© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


Pankraz,
Watchcam und der subtile Terror der Intimität

Von den vielen Degoutanzen im Internet ist das sogenannte "Watchcam" wohl die auffälligste: Es gibt da "Websites", die aus nichts als dem völlig uninteressanten Alltag völlig uninteressanter Menschen bestehen, aufgenommen von einer Fülle in der Wohnung und am Arbeitsplatz des Betreffenden installierter Kameras, und zwar im Dauerprogramm, vom ersten Hahnenschrei bis zum mitternächtlichen Betthupferl. Man wundert sich zunächst sehr, daß sich Leute finden, die sich das anschauen, ja, die geradezu süchtig danach sind.

Passieren tut faktisch nichts. Es gibt kein Drehbuch, und der Betreffende hat nicht den geringsten Ehrgeiz, dem eingeschalteten Voyeur etwas Besonderes zu bieten. Er wäre auch gar nicht in der Lage dazu, er ist viel zu unbegabt dazu. Er ist auch nicht hübsch oder interessant häßlich. Er hat nichts weiter als seine ganz und gar belanglose Ungefiltertheit.

Mißmutig wälzt er sich aus den Federn, läßt – um es dezent zu umschreiben – die Wasserspülung rauschen, flucht, weil er sich beim Dosenöffnen den Finger verletzt, nuschelt mit unausgeschlafenen Nachbarn herum, zieht sich die Schuhe an, wobei ihm der Schnürsenkel reißt, macht die Haustür auf und flucht erneut, weil es draußen schneit. Und die Kameras nehmen alles auf.

Nun könnte man sagen: In der Familienserie oder im modernen Roman geschieht nichts anderes. Jemand erzählt sein Leben, egal ob es die anderen angeht oder nicht, und findet sein Genügen daran. Er macht dabei zwar gewisse inszenatorische bzw. sprachliche Sperenzchen, um Aufmerksamkeit zu erzielen, aber so etwas haben die modernen Watchcam-Helden eben gar nicht mehr nötig. Sie leben einfach vor sich hin, Fixierung und weltweite Verbreitung sind trotzdem garantiert.

Was natürlich (noch?) auffällt, ist die Gleichgültigkeit der Watchcam-Helden gegenüber jeder Form von Verbergung und gutem Benimm. Sie entschleiern ihr armseliges bißchen Leben bis auf den Grund, sie zeigen alles vor, was sie haben und auch, was sie nicht haben. Intimität ist ihnen gleichgültig.

An sich sollte man ja glauben, daß es für jeden Menschen gewisse intime Verrichtungen gibt, bei denen er nicht einmal den lieben Gott als Zuschauer dabeihaben möchte. Aber die Watchcam-Helden passen nicht mehr in diesen Glauben. Sie zeigen "alles", und indem sie das unentwegt tun, berauben sie die Intimität schnell jeglicher Sensation. Was vor kurzem noch geiler Striptease mit tausend Ausrufezeichen gewesen sein mag, ordnet sich bei ihnen fugenlos in ödeste Alltagsroutine ein.

Doch tendiert nicht der "fiktive" Medienbetrieb in die gleiche Richtung? Auch dort gibt es keine Geheimnisse mehr, keine "Zeichen für …", sondern nur noch die Sachen selbst, die unterschiedslos und unsublimiert in eine Reihe gestellt werden. "Der Terror der Intimität", von dem Richard Sennett spricht, die wie selbstverständlich abrollende Dauerbehelligung der Zeitgenossen mit unappetitlichen Privatdetails irgendwelcher "Mitbürger", ist längst zur Generalmasche der Medien geworden.

Könnte sein, daß es just diese allgemeine mediale Angleichung ist, die den Watchcam-Matadoren Kunden zutreibt. "Die sind wenigstens ehrlich", sagt sich der einsame Surfer im Internet, "die tun nicht so, als würden sie mit ihren Zappeleien etwas Höheres meinen, obwohl es ihnen nur ums Geld geht. Nein, bevor ich den Quotenhaien zu Gefallen bin, will ich doch lieber mal nachsehen, was gerade www.xyz.com  drüben in Wisconsin treibt. Ach, er liegt schon im Bett und gibt soeben einige unanständige Geräusche von sich! Nun, eigentlich bin ich ebenfalls längst reif für die Heia, trotz des großen Zeitunterschieds. Dann also Gute Nacht und auf Wiedersehen".

Zwischenmenschliche Solidarität auf niedrigstem Niveau entfaltet sich im Verkehr zwischen Watchcam-Anbietern und Watchcam-Kunden, eine elektronische, digitale Stallwärme, die dem inneren Schweinehund ein allerbestes Gewissen verschafft und zudem nicht das Geringste kostet. Sollte es www.xyz.com   einmal ausgesprochen dreckig gehen, brauche ich ihm keineswegs zur Seite zu treten, er erwartet das gar nicht von mir, es wäre eine Störung des Programms, eine Verwechslung von Schokoladentalern mit richtigen Dollars.

Hier zeigt sich denn also die Kehrseite der Medaille: Die Ungefiltertheit von Watchcam, seine scheinbare Spontaneität und Offenherzigkeit taugen nicht zur Herstellung wahrhaft existentieller Beziehungen. Die Authentizität von www.xyz.com   verdunstet buchstäblich im Internet. Genau betrachtet ist er gar kein Mensch mehr, sondern nur noch Moment eines Infokanals.

Ob er will oder nicht – alles, was er tut und was ihm widerfährt, gerinnt zum simplen elektronischen Bit. Wenn ihn ein faszinierter Kunde in Wisconsin besuchen kommt, um dies und das mit ihm "persönlich" zu besprechen, rinnt auch dessen Existenz sofort in Richtung Elektronik aus. Es gibt ja keine Persönlichkeit namens www.xyz.com , es gibt lediglich ein Kraftfeld mit besagter Buchstabenfolge, und jeder, der sich ihm nähert, verschwindet gleichfalls im Kraftfeld, wird von ihm verschluckt und als Impuls vor den Internetnutzern ausgespuckt.

Rettung wäre allerdings leicht zur Hand, www.xyz.com   brauchte, wenn er sich wirklich "von Mensch zu Mensch" und "ganz unter uns" mit seinem Verehrer unterhalten wollte, nichts weiter zu tun, als mit einem einzigen Knopfdruck die ganze Batterie der Kameras abzuschalten. Aber dann wäre selbstverständlich auch sofortiger Schluß mit dem Programm, die ganze "Bedeutung" jener Figur, die unter www.xyz.com   codiert war, bräche abrupt zusammen, und übrig bliebe eine winzige Null, die wahrscheinlich gar nicht mehr die Kraft hätte, etwas Bestimmtes zu tun oder auch nur zu denken. Totaler Sieg der Elektronik über den Menschen.


 
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