© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


Jugend ’99: Anmerkungen zu einer neuen Generationen-Debatte
Im Wald ruft ein Kuckuck
Ellen Kositza

Es mußte ja kommen. Obwohl seit den 68ern sich keine wirklich greifbare Generation mit handfesten Merkmalen jenseits des Merkmals "Individualismus" formiert hat, erleben wir es in regelmäßigen Abständen: Gelangweilte Publizisten und überreizte Soziologen formulieren eine neue Ära der Jugend "von heute". Da gab es einst eine "No future-Generation", eine "Turnschuh-Generation", eine "Null-Bock-Generation", die in jüngerer Zeit angeblich einer "Generation X", einer "Generation Berlin" und probeweise den unausgegorenen "89ern" wichen, den gesamtdeutschen Adoleszenten der frühen Neunziger.

Da die Halbwertzeit dieser derart postulierten Zeitabschnitte längst nicht mehr auch nur eine halbe Dekade beträgt, war die Modellierung einer ganz neuen Jugend beinahe überfällig. Für dieses Jahr übernahm das kürzlich der Spiegel. Jugend 99: das seien "Trend-scouts" und solche, die auf "family values" stehen, erläutert das Nachrichtenmagazin im wesentlichen ohne Ironie und fokussiert einzelne Gesichter dieser "no-label-Generation". Zum Beispiel die kleine Frankfurterin Rixa, die sich "vom Charakter her den Trendscouts" zuordnen, ansonsten "als Bonze bezeichnen" würde. Sie ißt Sushi, diskutiert gern über "politische, soziale und ökologische Probleme" und wenn sie die "coolen Calvin-Klein-Models" sieht, "wie die so lässig dasitzen", denkt sie "okay, kaufst du mal Calvin Klein". Rixas Vorbilder: Kofi Annan und der Dalai Lama. Ist die Schülerin mit Deutschland zufrieden? Deutschland – wie bitte? "Niemand denkt mehr an Deutschland. Jeder spricht heute von der Europäischen Union." Das denken auch Rixas Gesprächspartner in der Spiegel-Runde.

Dann wäre da das 21jährige Fräulein Hanitzsch, eine Studentin, die beim Buchstabieren ihres Nachnamens mithilft. Der werde geschrieben "wie Nietzsche, nur ohne e". Dieses Zitat, womöglich schon seit Hanitzschs Großmutter väterlicherseits bei jeder sich bietenden Gelegenheit abgeleiert, ist für die journalistischen Jugendforscher ein nicht unwichtiges Indiz: Frau Studentin kennt a) Uwe Seeler und weiß b), wie Nietzsche sich schreibt – "also doch gebildet?"

Eine verwirrende Zeit mit verwirrenden Jugendlichen. Eines jedenfalls fällt allgemein auf an den "99ern": Nie wurden Jugendliche so wichtig und ernst genommen wie heute. Man denke an den knapp volljährigen Möchtegern-Schriftsteller Benjamin Lebert, seit Monaten wegen seines pickligen Möchtegern-Romans "Crazy" Hätschelkind der Medien. Auch er wird zitiert: saufen, was das Zeug hält, und mal eben ein bißchen vögeln – das sind unverwechselbare Merkmale genau dieser 99er-Jugend, das gab’s noch nie …

Natürlich, schränken die Spiegel-Autoren ein, könne man nicht von einer in sich geschlossenen derzeitigen Jugendkultur reden. Der Generationenbegriff sei schon ein bißchen eine "Begriffskeule", gesteht man – und keult munter weiter. Eine Grundlage des verkrampften Versuchs, eine Epoche auszurufen, die durch überhaupt keine Grundlage geeint werden kann, sind dabei die zahlreichen Daten einer Emnid-Umfrage. Man muß die Tabellen mit den kessen Antworten auf prägnante Fragen aufmerksam lesen: 95 Prozent der "99er" beantworten die Frage nach ihren Vertrauenspersonen mit "meine Eltern". Als wäre dies nicht erstaunlich genug, finden sich zur Frage, wogegen es sich zu kämpfen lohne, 26 Prozent, die "Autoritäten wie Eltern" als Angriffsziel angeben. 56 Prozent empfinden einen Kampf gegen die "Spaßfeindlichkeit der Gesellschaft", wackere 83 Prozent gegen "Diktatoren" als lohnend. Eine kampfbereite Generation, so scheint es.

Die "99er": eine Spannweite von Frau Naseweis bis Herr Brechmittel? Aber Moment mal, wie lautet doch gleich die Definition des Spiegel: gesprochen wird von den "15- bis 25jährigen Millennium-Kids". Huch! Dann wäre ich ja auch eines dieser Kids? Love Parade – war ich nie, Drum’n’Bass und Dosenbier – mochte ich nie, Joschka Fischer und Kate Moss als Idole – irgendwie nicht. Und selbst Nietzsche würde ich persönlich ohne "H" am Anfang schreiben. Vermutlich bin ich, zumal ja bereits "89erin", als "99erin" einfach nicht repräsentativ.

Frage an meine Schwester, die 1989 erst die Grundschule besuchte und möglicherweise besser in den Querschnitt dieser aufregenden neuen Generation paßt: "Wen würdest Du, Millennium-Kid, als Dein Vorbild bezeichnen?" Verständnisloser Blick – wie, Vorbild? "Ich habe kein Vorbild. Ich kenne überhaupt niemanden, der ein Idol hat." Dabei ist der Freundeskreis meiner Schwester beträchtlich. "Na komm", locke ich und verlese die Spiegel-Liste: "Wer wäre es denn am ehesten: Umweltgruppen wie Greenpeace, Sportler wie Michael Schumacher, Schauspieler wie Leonardo di Caprio..." "Karin Tietze-Ludwig", sagt meine Schwester launisch und verläßt das Zimmer. Ja, diese Millennium-Kids!

Im bunten Allerlei der "99er" fehlen auch die Rechtsextremen nicht, radikal laut Spiegel durch zwei Ursachen: a) durch die frühe Sauberkeitserziehung in den sozialistischen Kinderkrippen, b) als Reaktion auf die hohe Arbeitslosenrate. Doch auch hier: im Grunde lauter versprengte Einzelmenschen. Kein Aufbegehren, wenig Leidenschaft. Man kauft und frißt und kotzt sich hin und wieder aus, alles nicht weiter dramatisch.

Was fehlt, und was von den Jugendforschern natürlich längst entdeckt ist, ist eine zentrale Sichtweise, die abhandengekommene "Große Erzählung", die eine einigermaßen runde Sicht auf die Dinge der Welt ermöglichen und umgekehrt einer Generation Konturen verschaffen würde. Der spätmoderne öffentliche Diskurs, vor allem der durch populistische Medien getragene, das immer schneller und unübersichtlicher werdende Hickhack in Feuilletons, Talkshows und Internet wird einer genuinen Jugendbewegung keine Chance lassen. Was also ist das Millennium-Kid? Nichts weiter. Die Piercings werden weniger, Caprihosen sind angesagt, man verlobt sich wieder und heiratet spät, alles geht, und im Wald ruft ein Kuckuck. Fast wie 1995. Oder ’87. Oder ’78. Die "99er" – ein Sommerloch.

 

Ellen Kositza gehörte zu den Autoren in dem Sammelband "Wir 89er", der im Ullstein Verlag erschienen und inzwischen vergriffen ist.


 
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