© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/99 30. Juli / 06. August 1999


Karl Korneli: Alotschka. Krieg und Liebe in Rußland
Eine Geschichte von unten
Jutta Winckler-Volz

Was Karl Korneli in biographischer Rückschau hat aufzeichnen können, wurde ihm als Kind des Kohlenpotts gleichsam an der Wiege gesungen. In der "Waffenschmiede des Reiches" kam er 1916 zur Welt. Den Zweiten Weltkrieg hatte der Autor, Soldat von 1937 bis 1945, vom ersten bis zum letzten Tag durchzustehen. Mit Millionen anderen erlebte Korneli das Banale, Gefährliche, Absurde, Monströse, aber auch das Faszinierende, wie es die moderne Kriegsführung mit ebenso technisierten wie ideologisierten Massenheeren hervorbringt.

Kornelis Erinnerungsarbeit mißverstünde sich selbst, wollte sie tatsächlich unter den Gattungsbegriff "Roman" (so die Rubrizierung im Verlagsprogramm) fallen. Vielmehr bietet das bemerkenswert geschickt komponierte Werk die autobiographische Schilderung des Ostkriegserlebnisses. Unprätentiös, umgangssprachlich, syntaktisch einwandfrei, dabei anschaulich-präzise schildert der Wehrmachts-Waffenfeldwebel einer Werkstatt-Kompagnie der 16. Panzerdivision das, was "damals" im Osten, im Großdeutschen Reich und seiner Wehrmacht, vorgegangen ist, und wie es in den Köpfen und Herzen deutscher Landser, aber auch in denen ihrer Gegner ausgesehen hat. Dies ist heutzutage besonders wichtig: nach den erfolglosen Versuchen der Alliierten, der Erlebnisgeneration die Sieger-Version des Geschehens zu verpassen, waren sie bei den Nachgeborenen um so erfolgreicher. Seit es gelang, den "Besiegten von 1945" ihre Umerziehung selbst ans Herz zu legen, hat diese Art karrierefördernder Revision sämtliche Bereiche deutschen Selbstverständnisses erfaßt.

Kein Zweifel: Korneli hat niederschreiben wollen, wie es tatsächlich gewesen ist, näherhin, wie sich die epochalen Auseinandersetzungen der Zeit im Horizont eines im Ostheer eingesetzten Soldaten dargestellt haben. Dies ist ihm eindrucksvoll gelungen, festigt sich doch beim Leser von Episode zu Episode der Eindruck, sich dem Zug des Erzählens vorbehaltlos anvertrauen zu können, denn hier führt ihn keiner ideologisch hinters Licht. Die Dinge werden so dicht und ereigniszentriert geschildert, daß die hermeneutischen Meta-Ebenen der heutzutage oft so dominanten Interpreten erst gar nicht ins Spiel kommen. Eine MG-Salve ist eine MG-Salve ist eine MG-Salve... Korneli nutzt sein erzählerisches Talent und erlaubt uns einen authentischen kühlen Blick auf das, was einem deutschen Soldaten in den Jahren 1941 bis 1945 widerfahren ist.

Bliebe es bei Erlebnisberichten aus Heimat, Etappe und Frontgebiet, könnte man Kornelis Buch jener beträchtlichen Anzahl biographisch strukturierter Werke erzählender Prosa zurechnen, die im zurückliegenden halben Jahrhundert vorgelegt worden sind. Was den hier zu besprechenden Titel aus dieser fast unübersehbar gewordenen Bibliothek der Bekenntnisse und Berichte heraushebt, ist das Privatleben des damaligen Waffenmeisters, soweit er sich dessen angesichts der Roten Armee hatte erfreuen dürfen. Denn seit den Tagen Alexanders ist die Beziehung zwischen einrückenden Truppen und ziviler Bevölkerung eine durchaus vielschichtige; im kriegerischen Ausnahmezustand, einer Grauzone wechselseitiger Interessen und Bedürfnisse, gedeiht nicht bloß das Geschäft, sondern auch die Liebe. In unserem Fall aber geht es nicht um Bordell, Kurzpoussieren oder Bratkartoffelverhältnis, denn Amor tat mit seinem Pfeil einen wahren Kunstschuß: Sein Weihnachten 1941 hatte Feldwebel Karl im Donezbecken zu verbringen. Zur Kompagniefeier warb man junge Mädchen an – sie erhielten Geschenke und man selbst mehr Sicherheit vor etwaigem Partisanenüberfall. In eine der jungen Frauen verknallt Karl sich über beide Ohren. Man sieht sich wieder, die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit, und bald ist ihm klar: "Das ist die Frau meiner Träume!" Doch dem dauerhaften Bund hat sein Führer und Oberkommandierender ein Hindernis errichtet: "Die Rassengesetze duldeten kein Liebesverhältnis, und schon gar nicht eine Heirat zwischen Deutschen und Russen."

Wenngleich es keine genetische Bolschewismus-Abgrenzung in den Nürnberger Gesetzen gab, waren seine Bedenken keineswegs unbegründet; in der aufgeheizten Stimmung jener Epoche roch eine solche eheliche Verbindung nach Defaitismus, zumindest dürfte sie dem "gesunden Volksempfinden" der Zeit als höchst unmoralisch erschienen sein. Dennoch hielten beide an ihrem Entschluß zur Heirat fest; während die 16. Panzerdivision die Sommeroffensive des Jahres 1942 vorzubereiten half, machte seine ebenso belesene wie attraktive Alice sich in einem Heeresbekleidungslager nützlich. Schon im Juni sieht das Paar sich wieder; unbefangen schildert der Autor die ersten körperlichen Liebesversuche. Die Verlobung wird vom plötzlichen Tod des Vaters überschattet, der Bräutigam verabschiedet sich von seiner Braut, um "im Verbund der 6. Armee" Stalingrad zu erobern. Wie das endete, weiß heute jeder. Was Korneli bis zu seiner Rettung über die Don-Brücke bei Kalatsch erlebte, ließe sich leicht zu etlichen Filmdrehbüchern verarbeiten.

Die ohne das geringste Pathos geschilderten Kampfhandlungen sind grauenhaft in ihrer Banalität: töten oder getötet werden, der Tod heißt Zufall, und wenn das Gefecht endlich verebbt, bleibt nichts als Apathie, gefolgt von Hunger und Durst. Ein Schicksal mag als Exempel stehen: Karl und ein befreundeter blutjunger Leutnant sprechen über Bräute, Heimkehr und das Morgen. Man verabschiedet sich, eine Minute später liegt der Leutnant am Boden, das winzige rote Loch in der Stirn verrät den feindlichen Scharfschützen. Absurdität der Situation, eingezwängt zwischen soldatisch opferbereiter Todesnähe und bürgerlichem Lebensentwurf in der Heimat. Nicht der Tod, sondern tote Körper sind dem fronterfahrenen Korneli ein unheimlicher, nie begreiflicher Graus: "Fragend schaute ich in seine toten Augen, als wären es Fenster, in die ich hineinsehen könnte, um das Geheimnis des Todes zu ergründen, das dahinter womöglich verborgen wäre."

Der Autor erlitt im Laufe der Jahre etliche Verwundungen, eine am Arm geriet zum Hochzeitsschuß. Karl nutzte den Genesungsurlaub zur staatlichen und kirchlichen Eheschließung. Tagelang reiste das Paar, bis sämtliche bürokratischen Hürden genommen waren: Rasse- und Sippenamt der SS in Berlin ("Alice Minakowa, geboren am 14.11.1923, ist arischen Ursprungs"), Genehmigung der Wehrmacht vom Standortältesten Stettin, Ehetauglichkeitszeugnis vom Truppenarzt, Meldeamt der Polizei; dann Ringekauf, Trauzeugen-Beschaffung. Vom Staat gab’s Hitlers "Mein Kampf", von der Kirche den Segen.

Im Dezember 1943 verabschiedete Alice ihren Karl abermals Richtung Ostfront: Tscherkassy, Uman, Czernowitz, Pruth und Dnjestr hießen Rückzugs-Etappen, die Partisanenrotten zur Flucht vor der Entbeinung machten: "Wir standen vor einer Felsenhöhle. (...) Die vor mir liegenden nackten Körper waren derartig verstümmelt, daß man sie kaum noch als Menschen erkennen konnte. Nur die herumliegenden Uniformteile zeugten davon, daß diese aufs ärgste geschundenen Toten mit den ausgestochenen Augen, herausgeschnittenen Zungen und abgeschnittenen Geschlechtsteilen einmal deutsche Soldaten waren."

Im Sommer 1944 sah sich das außergewöhnliche Ehepaar wieder; man unternahm eine selige kurze Reise zu Mosel und Rhein und besuchte eine Puccini-Aufführung im von Ruinen umgebenen Koblenzer Stadttheater: So sah Goebbels’ "totaler Krieg" in Wirklichkeit aus... Noch mit "Tosca"-Melodien im Ohr sollte es anderntags zur Heeresgruppe Mitte gehen; von deren 350.000 Mann war binnen 14 Tagen nichts mehr übrig. Karl Korneli durfte einem weiteren Desaster Stalingradschen Ausmaßes entrinnen, die wirre Endphase des Krieges verschlug ihn nach Litauen, Ungarn und schließlich nach Wien. Das chaotisch-banale Ende von Krieg, Reich und Soldatendasein erlebte er in Böhmen, wo entmenschte Tschechen Jagd auf alles Deutsche machten. Wie sich seine Heimkehr gestaltete, ob es ein glückliches Wiedersehen mit Alice gab oder auch diese bemerkenswerte deutsch-russische Verbindung vom Unglück beider Nationen in diesem Jahrhundert zeugt – das zu erfahren überlassen wir dem Leser selbst.

 

Karl Korneli: Alotschka. Krieg und Liebe in Rußland. Verlag Dietmar Fölbach, Koblenz 1999, 165 Seiten, 24,80 Mark


 
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