© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/99 13. August 1999


Niederlande: Das Kabinett von Regierungschef Wim Kok wankt
Brüchige Dreierkoalition
Menno van Heeckeren

Das Sommerloch der Haager Politik gibt den niederländischen Koalitionspartnern reichlich Anlaß, eine überaus gemischte Bilanz aufzumachen. Kaum ein Jahr nach den letzten Parlamentswahlen kriselt das zweite Kabinett von Ministerpräsident Wim Kok vor sich hin. Dieses Kabinett, bestehend aus Sozialdemokraten (PvdA), Linksliberalen (D66) und Rechtsliberalen (VVD), war eine Wiederauflage der vorherigen Koalition, an deren Spitze ebenfalls der Sozialdemokrat Wim Kok stand. Dieses sogenannte "violette Bündnis" (der Name verweist auf die Kombination aus sozialistischem "rot" und liberalem "blau") wurde bei seiner Vereidigung 1994 geradezu euphorisch gefeiert. Erstmals seit 1917 war es gelungen, eine Koalition ohne Christdemokraten (vorher bestehend aus Katholiken, Anti-Revolutionären und Altreformierten) zu bilden. Freund und Feind waren damals bereit, diesem außergewöhnlichen Kabinett eine Chance zu gönnen. Doch jetzt, nach Ablauf der ersten Legislaturperiode (1994–1998), verliert die Koalition an Glanz. An dieser "Entzauberung" ist sie jedoch selber nicht unbeteiligt: mehrere Skandale und Krisen haben die Regierung seit 1998 begleitet.

So mußte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß eingerichtet werden, der die administrativen Fehler bei der Abwicklung der "Bijlmer-Flugkatastrophe" von 1992 aufdecken sollte. Diese Flugkatastrophe, bei der ein Jumbo der israelischen Fluggeselllschaft El Al über dem südöstlich von Amsterdam gelegenen Bijlmer-Viertel abstürzte, hat seit 1992 die niederländische Öffentlichkeit in Bewegung gehalten. Das war wohl vor allem dem Umstand zu verdanken, daß die Fracht-Briefe des El-Al-Jumbos, die Aufklärung über die wahrscheinlich hochgradig giftige Ladung des Flugzeugs hätten verschaffen sollen, spurlos verschwunden waren.

Das Komitee "Bijlmer-Opfer" äußerte außerdem den Verdacht, daß der Flughafen Schiphol der Gesellschaft El Al Sonderprivilegien zugestanden hatte. Diese Privilegien hätten den israelischen Konzern zu einem laxen Umgang mit Sicherheitsstandards ermutigt. Außerdem fühlten sich die Bijlmer-Komitees von der Haager Politik im Stich gelassen: diese Vorwürfe konzentrierten sich auf die Gesundheitsministerin Els Borst, deren Behörde es versäumt hätte, den Zusammenhang zwischen den Gesundheitsbeschwerden der Bijlmer-Bewohner und der toxischen Belastung infolge der Fugzeugkatastrophe systematisch zu untersuchen.

Der parlamentarische Untersuchungsausschuß war ziemlich entschlossen, den politischen Kopf der D66-Gesundheitsministerin und Vize-Ministerpräsidentin Els Borst zu fordern. Der Rücktritt Els Borsts hätte das Kabinett mit Sicherheit nicht überlebt. Daß die Vorantreiber des Bijlmer-Untersuchungsausschusses dennoch nicht soweit gingen, das Ende des Zweiten Kabinetts Kok anzusteuern, war einer zweiten politischen Krise zu verdanken.

Anlaß zu dieser Krise war die Einführung des "korrektiven Volksentscheids". Die kleinste Regierungspartei, die "Demokraten 66" (D66), hatte sich dieses Thema schon seit ihrer Gründung 1966 auf die Fahnen geschrieben. Die Partei war mit dem Anspruch gegründet worden, das überkommene niederländische Parteiensystem zu "zersprengen", wie es im damaligen Revoluzzer-Jargon hieß. D66 wandte sich gegen die teils sozial-ökonomisch, teils religiös motivierte Auffächerung des niederländischen Parteiensystems mit seiner undurchschaubaren Koalitionsarithmetik und seinen ideologisch verfestigten Milieus.

Die Gründungsmitglieder der Partei meinten durch Wahlrechtsreformen die soziologische Entwicklung beschleunigen zu können. So hoffte man, daß die Einführung direkt-demokratischer Verfassungsreformen das Harmoniemodell der dominierenden christlichen Parteien und Verbände schwächen konnte. Stattdessen sollte sich ein "Westminster-Modell" herausbilden, in dem sich zwei Blöcke deutlich gegenüberstehen.

Auch waren sich führende Politiker der Partei darin einig, daß das repräsentative System plebiszitärer Ergänzungen bedurfte. Dabei dachte man vor allem an die Einführung eines (korrektiven) Volksentscheids, ein Element, das der strikt repräsentativen Verfassung der Niederlande bis heute fremd ist.

Während der Koalitionsverhandlungen hatte Ministerpräsident Kok seinem kleinen Koalitionspartner jedoch die Zusage gemacht, daß die Möglichkeiten zur Einführung des korrektiven Volksentscheids geschaffen werden sollten. Dazu bedurfte es jedoch zuerst einer Verfassungsänderung, in der auch der Senat (der sich verwirrenderweise "Erste Kammer" nennt) Einspruchsrechte geltend machen kann. Obwohl das Gesetz zur Ermöglichung eines korrektiven Volksentscheids mit zahlreichen Vorbehalten (hinsichtlich der Zahl der zu sammelnden Unterschriften und der Ausklammerung wichtiger Politikbereiche) umgeben war, ging das Zugeständnis einigen konservativ-liberalen Senatoren bereits zu weit. Schon im Vorfeld der Gesetzesberatungen hatte zum Beispiel der VVD-Senator Wiegel (langjähriger Parteiprominenter der VVD und entschiedener Gegner einer Koalition mit den beiden Linksparteien) zu erkennen gegeben, daß sie die Einführung plebiszitärer Elemente in die Verfassung grundsätzlich ablehnte.

Die Warnung des Wim Koks, daß Wiegel und einige seiner Kollegen mit ihrer widerspenstigen Haltung den Fortbestand der Regierung in Gefahr bringen würden, war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Für D66 war die Einführung des korrektiven Volksentscheids ein Herzesanliegen; es war der letzte Strohhalm, an dem sich die um ihre Identität bangende Partei festgegriffen hatte. Deshalb hatte der Sozialdemokrat Kok, der im Falle des Ausstiegs von D66 aus der Regierung allein mit dem ehemaligen "Erzfeind" VVD weiterregieren sollte, die gesamte Dreiparteienkoalition auf die Zustimmung zum Volksentscheid festgelegt. Nur der Senat sollte das Gesetzesvorhaben noch absegnen.

Daß diese Zustimmung nicht so reibungslos zustande kam, war vor allem Hans Wiegel zu verdanken. Wiegel, ein gestandener Konservativer, der sich in den siebziger Jahren als Oppositionsführer gegen das linkssozialistische Kabinett unter Premierminister Den Uyl den Ruf eines "rechten Demagogen" erworben hatte, erfreute sich ohnehin keiner großen Beliebtheit im politisch korrekten D66-Milieu. Wiegel seinerseits suchte schon länger nach einem Anlaß, seine Partei von dem lästigen Bündnis mit diesen verhaßten potverteerders (Sozialschmarotzern) der PvdA und den Reformschwärmern von D66 zu befreien. Die Behandlung des korrektiven Volksentscheids, einem typischen D66-Steckenpferd, kam ihm deshalb nur allzu gelegen. Seine Behauptung, er könne diese winzige Korrektur nicht mit seinem "staatsrechtlichen Gewissen" vereinbaren, werden ihm die wenigsten abgenommen haben. Doch der Hauptzweck war erreicht: der gekonnte Polit-Profi Wiegel, der dem konservativen Volksteil schon immer aus dem Herzern gesprochen hatte, hatte mit seiner Ablehnung des korrektiven Volksentscheids die Toleranzschwelle von D66 überschritten. D66-Vormann De Graaf erklärte dem Senat, daß Wiegel "Unwiederherstellbares" geleistet habe und D66 sich von daher genötigt sehe, aus dem Kabinett auszutreten.

Die Presse, die bereits das Ende der Ära Kok angekündigt hatte, hatte jedoch nicht mit dem Konsenswillen des "Krisenkabinetts" gerechnet. Dabei waren die Ratschläge der Königin, die bei der (De)formierung eines Kabinetts einen nicht unbeträchtlichen staatsrechtlichen Spielraum hat, wohl entscheidend. Außerdem war keine der drei Koalitionsparteien an Neuwahlen interessiert. Der Kompromiß, auf den sich die Regierungsparteien geeinigt haben, mutet jedoch eher technokratisch als direkt-demokratisch an: Statt einer Verfassungsreform soll jetzt ein einfaches Gesetz zur Einführung des Volksentscheids genügen, damit dem lästigen Senat das Einspruchsrecht verwehrt wird.

Dem steht jedoch gegenüber, daß der verfassungsrechtliche Status des vielbeschworenen korrektiven Volksentscheids jetzt wohl auf null reduziert. So wäre es durchaus denkbar, daß eine künftige Koalition aus christlichen Demokraten und Rechtsliberalen das D66-Steckenpferd auf dem Wege eines normalen Gesetzgebungsverfahrens wieder abschaffen könnte. Nicht unbedingt eine Vorzeigereform also.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen