© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/99 13. August 1999


Film: Zum 100. Geburtstag von Alfred Hitchcock
Ein Magier der Angst
Werner Olles

Zunächst sehen wir nur ein Auge, dann eine junge blonde Frau mit nach oben gewandten Gesicht unter einer sprühenden Dusche, den Kopf in den Wasserstrahl haltend. Ein Schattenriß mit erhobenem Messer, und in der nächsten Einstellung, fast wie verwischt, Hiebe und Stiche. Der Mund der jungen Frau ist vor Angst jetzt weit geöffnet, dann ergießt sich ein Strom aus Blut und Wasser in den Ausguß des Duschbeckens. Die wohl berühmteste Szene der Filmgeschichte, der Mord in Alfred Hitchcocks Film "Psycho" aus dem Jahre 1960, dauerte nur 45 Sekunden und wurde aus 70 verschiedenen Kamerapositionen gedreht. "Psycho" wurde zum Synonym für Angst, aber dem Meister entlockte der Film nur die lakonische Bemerkung: "Blondinen sind die besten Opfer. Sie sind wie jungfräulicher Schnee, der die blutigen Fußabdrücke offenbart."

Alfred Joseph Hitchcock wurde am 13. August 1899 in London geboren. Die Eltern waren praktizierende Katholiken und sorgten dafür, daß der Sohn eine anständige Ausbildung auf dem St. Ignazius-College, einer Londoner Jesuitenschule, erhielt. 1926 heiratete er die Drehbuchautorin Alma Reville, die seit seinem Regiedebüt bei der britischen Produktionsfirma Gainsborough als seine Mitarbeiterin fungierte. Im gleichen Jahr drehte er den ersten richtigen Triller. "The Logder" erzählt die Geschichte eines Mannes, der für Jack the Ripper gehalten wird. Kritiker und Publikum waren gleichermaßen beteiligt, und Hitchcock bekam die ersten Offerten aus Amerika. Seine erste Arbeit dort war die Verfilmung von Daphne DuMauriers Roman "Rebecca". Joan Fontaine spielte die Hauptrolle, und der Film bekam als beste Produktion des Jahres 1940 einen Oscar. Mit "Rebecca" schuf Hitchcock die Kunst einer Stimmungsbeschwörung, der verbalen Andeutung und der symbolischen Lichtgestaltung, die sich kaum noch überbieten ließ.

Zu den wichtigsten seiner 53 Filme gehört auf jeden Fall "Im Schatten des Zweifels", den Hitchcock 1943 mit Joseph Cotten in der Hauptrolle drehte. Das intelligente Drehbuch stammt von Thornton Wilder, auch Hitchcocks Frau Alma Reville arbeitete daran mit. Die Geschichte um Onkel Charly, den "Lustigen Witwenmörder", hat bis heute nichts von ihrer Wirkung verloren. Dies liegt vor allem an der psychologisch dichten Atmosphäre, die Hitchcock so gemächlich wie analytisch entwickelt.

Mit Ingrid Bergmann drehte er 1946 "Berüchtigt". Der Film handelt von Krieg, Spionage und Liebe, und von Agenten des Dritten Reiches, die in Südamerika ein Spionagenetz aufbauen. In Deutschland schien dieses Thema so brisant zu sein, daß man aus den Agenten eine Rauschgiftschmugglerbande machte, erst in den 60er Jahren wurden auch die deutschen Zuschauer mit den Spionagemotiven dieses romantischen Thrillers bekanntgemacht.

"Bei Anruf Mord" (1954) gehört zu den Filmen, die Hitchcock nur inszenierte, um seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Noch im gleichen Jahr drehte er "Das Fenster zum Hof", und hier offenbart er sich als bedeutenderAnalytiker bürgerlicher Obsessionen und Abgründe. James Stewart spielt einen Fotographen, der durch einen Unfall vorübergehend an den Rollstuhl gefesselt ist. Harmlos und nett, ein bißchen linkisch zwischen Verstörtheit und Naivität, gibt er sich seinem tiefsitzenden Voyeurismus hin und beobachtet mittels Fernglas und Kameraobjektiv den mehrstöckigen Wohnblock gegenüber. Schon bald glaubt er in einer gegenüberliegenden Wohnung einen Mord entdeckt zu haben. "Das Fenster zum Hof" zählt zu Hitchcocks ausgereiftesten, hinterhältigsten und abgründigsten Filmen. Ein zeitloser Klassiker, in dem uns das Schlitzohr Hitchcock erklärt, daß wir, die Zuschauer, die eigentlichen Spanner sind und die Abgründe seiner Helden in uns selbst tragen.

Hitchcocks vielleicht bester Film "Vertigo – aus dem Reich der Toten" (1958) ist die Geschichte eines mysteriösen Albtraumes. In diesem Film der Doppelbödigkeit, der Zwielichtigkeit, des Morbiden und Desolaten geht es um Akrophobie und Nekrophilie, und es geht um tiefsitzende religiöse Schuld und Ängste, Konventionen, Normen, Verbote und Verdrängungen. Das Schwindelgefühl, das den braven Detektiv Scottie vor dem Abgrund ereilt, ist eine der genialsten Hitchcocks Volten und macht "Vertigo" zu seinem geheimnisvollsten Schlüsselwerk.

Nach seinem kommerziell erfolgreichsten Film "Der unsichtbare Dritte" (1959) drehte er 1960 jenen Thriller, der als einer der raffiniertesten und überwältigsten Filme überhaupt gilt: "Psycho". Von Kritikern recht ungnädig aufgenommen, erzählt Hitchcock nach einer Vorlage von Robert Bloch die Geschichte einer Geistesstörung, deren psychologischer Terror und grausame Pointe kaum Anspruch auf allzu hohe Glaubwürdigkeit darstellte, aber dennoch die Mythen der amerikanischen Populärkultur zu integrieren verstand. Eine unbefriedigte junge Frau, die schreckliche Mutter, der kranke gute Junge, das Motel, der Detektiv, das Geld, eine Liebesgeschichte mit schrecklichem Ausgang. "Psycho" ist ein genialer Film über Sex und Gewalt, über Inzest und Transvestismus, über Mord und eine Erotik, die so unbehaglich ist, daß sie nichts als Angst und Schrecken vermittelt.

1963 drehte Hitchcock nach Daphne DuMauriers Kurzgeschichte "Die Vögel" den gleichnamigen Thriller, in dem es mehr um die Beschreibung des inneren Zustandes der Menschen als um die Erzeugung mythischer Schreckensbilder geht. Das angstvolle Warten, die gespenstische Ruhe, die das Unheil ankündigt, die latente Bedrohung durch den Angriff der Vögel und das Gefühl der Ohnmacht einer feindlichen Natur gegenüber überträgt sich auf die Zuschauer. Während die Kamera eine subjektive Position einnimmt, wird die Spannung raffiniert gesteigert und dadurch ein permanenter Schwebezustand des Grauens geschaffen.

Das zentrale Thema bei den meisten Filmen Hitchcocks ist der Verlust von Identität, die Verstrickung in erotische Obsessionen und die Faszination des Voyeurismus. Oft liegen seine Filme nahe am Phantastischen, aber immer sind sie in ihrem Ablauf von einer logischen und rationalen Gesetzmäßigkeit gesteuert. Hitchcock überschreitet bewußt die Grenzen zwischen dem normalen Kriminalfilm und dem psychologischen Thriller, indem er die Visualisierung von potenzierten Ängsten dokumentiert, und indem er mit einer präzisen Beschreibung unserer Albträume psychologische Fallstudien bebildert, die uns in eine Welt des Schreckens führen, in der wir uns trotzdem irgendwie wohlfühlen. Wilfried Wiegand hat Alfred Hitchcock, der am 1. Mai 1980 im Alter von 80 Jahren in Los Angeles starb, zu Recht einen "Tragödiendichter" genannt. Sein Gesamtwerk hat jedoch mehr mit der Psychoanalyse zu tun als mit der Mythologie. Vielleicht macht gerade dies seine Genialität aus, seine Rätselhaftigkeit und das Geheimnis seiner Filme.

Francois Truffaut schrieb, daß seine wirkliche Stärke die Emotion ist. Mehr noch aber ist es vielleicht das intime und tiefe Verständnis für die Gefühle, die dieser Regisseur auf die Leinwand projizierte. Wie keinem anderen Regisseur ist es Hitchcock gelungen, das Kino zu einem Fest der Affekte zu machen.


 
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