© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/99 20. August 1999


Rußland: Personen spielen eine begrenzte Rolle
Wechselbäumchen
(JF)

Herr Segbers, wie beurteilen Sie die Situation in Rußland heute nach dem Wechsel in der Führung zu Putin. Ist Jelzin noch Herr der Lage, und wer regiert Rußland wirklich?

Segbers: Wenn wir auf die "große Politik" und deren Akteure schauen, ist die Lage anhaltend instabil. Die Zeithorizonte der wesentlichen Gruppierungen sind sehr kurz. Es geht ausschließlich um innere Aspekte – Ressourcensicherung, Wahlkämpfe u.ä. Der Wechsel von Stepashin zu Putin drückt weniger Kritik des Präsidenten und seiner Umgebung an ersterem aus als den Versuch, die Nachfolgefrage nun in einem "verläßlichen" Sinne zu regeln. Wer nun regiert Rußland? Kein Präsident, keine Regierung. Verschiedene wirtschaftliche und politische Interessengruppen wirken zusammen und gegeneinander. Das sorgt für anhaltende Schwäche der politischen Institutionen und für Instabilität. Zugleich gilt: Auf der gesellschaftlichen Ebene sieht die Lage besser aus. Wirtschaft und Gesellschaft ziehen langsam wieder an, es entwickelt sich eine Mittelschicht, die nicht zu verwechseln ist mit den neureichen "neuen Russen", und die junge Generation ist längst im "Global Village" angekommen. Hier gibt es eher Anlaß für Optimimus.

Putin wurde als "Soldat" der Führung vorgestellt. Kann er dem Land Stabilität bringen?

Segbers: Nicht als Person. Personen spielen nur eine begrenzte Rolle. Die politische Steuerungsfähigkeit ist nicht nur in Rußland allgemein geringer geworden. Wenn der neue Premier es aber verstünde, die Anpassungsbewegungen in die Weltwirtschaft nicht zu behindern, einige Instiutionen zu stärken, den Haushalt zu stabilisieren und die Lohnzahlungen zu verstetigen, dann hätte er eine große Leistung vollbracht. Ob man das von ihm erwarten kann, ist eine andere Frage.

Wer hat nach Ihrer Ansicht bei den Präsidentschaftswahlen die besten Chancen – ist Lebed noch zu berücksichtigen, was ist mit dem einflußreichen Moskauer Bürgermeister Luzhkov?

Segbers: Derzeit deuten die Umfragen an, daß Primakov, Zjuganov und Luzhkov die größte Popularität aufweisen, gefolgt von Javlinskij, Stepashin, Lebed und anderen. Da ist es für Prognosen zu früh, jetzt geht es um die Parlamentswahlen. Danach gibt es weitere Veränderungen, und wenn die Präsidentenwahlen spätestens im Juni 2000 stattfinden, falls sie stattfinden, dann mag es hier noch einige Verschiebungen geben, vielleicht sogar neue Namen.

Wie beurteilen sie den Einfluß der Kommunisten und der Leute um Zjuganov?

Segbers: Es gibt nicht wenige Gruppierungen, die auf ein Elektorat abzielen, daß sich kommunistisch nennt oder gebärdet. Hinzu kommen "patriotische" Gruppen. Ihr Problem: Viel Konkurrenz, wenig Gemeinsamkeit. Und – ihre Beteiligung an der Regierung: Primakov hinterließ keinen glänzenden Eindruck. Allgemein wird mit einem Rückgang der Zustimmung bei den Dumawahlen gerechnet, ähnliches mag für die Präsidentschaftwahlen gelten.

In Dagestan kämpfen Islamisten gegen Rußland . Kann der Islam für die Region zu einem größeren Problem werden?

Segbers: Kaum. Die Banden, die ein paar Dörfer halten, haben keinen erkennbaren Rückhalt in Dagestan, anders als vor ein paar Jahren in Tschetschenien. Nicht ein Islam oder Pseudo-Islam ist gefährlich, sondern unentschiedenes Agieren föderaler Strukturen. Man könnte die Dinge dort auch ignorieren. Was heißt es schon, wenn ein paar Dörfer in Zeiten der Globalisierung für unabhängig erklärt werden. Oder man müßte die Lage rasch und entschieden militärisch bereinigen. Die ungünstige Variante wäre ein unklares Pendeln zwischen verschiedenen Optionen. Der Nordkaukasus hat zahlreiche Konfliktherde. Andere Brandstifter schauen zu, was nun im Südwesten Dagestans geschieht. Von daher können jetzt gemachte Fehler tatsächlich zu einer negativen Folgewirkung führen.

Was bedeutet die Krise in Dagestan für die inneren Verhältnisse in Rußland?

Segbers: Bisher wenig. Weder ist die Separation von Regionen und Republiken populär, noch militärisches Engagement. In den anderen Teilen der "Russischen Föderation" ist bisher keine Wirkung zu registrieren. Eine andere Frage sind die Kosten. Hier zeichnen sich erneut Belastungen des Haushaltes ab, die vielfach unerfreuliche Folgen haben können.

Welche Rolle spielt Boris Berezovski heute noch für den Kreml? Kann Geld das russische Schiff wieder flott machen?

Segbers: Er ist im engen Umfeld der "Familie", das heißt der engsten Umgebung des Präsidenten. Er hat erhebliche kommerzielle und politische Interessen. Mitunter wird sein Einfluß von Anatolij Chuajs teilweise ausgeliechen. Allgemein gesagt: Niemand kann heute vor oder hinter den Kulissen wirklich ein großes Rad drehen. Handlungsmöglichkeiten sind eher begrenzt. Geld sollte nur unter klaren Auflagen gegeben werden. Und nicht deshalb, um eine kaum funktionierende Staatsmacht zahlungsfähig zu halten, sondern weil Mittelschichten Devisen brauchen. Es muß auf allen Ebenen gearbeitet werden.

 

Prof. Klaus Segbers ist Rußlandexperte am Osteuropa-Institut (OEI) der Freien Universität Berlin.


 
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