© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/99 20. August 1999


Nachruf: Peter Sichrovsky zum Tode von Ignatz Bubis
Er hatte eine reine Alibi-Funktion
Peter Sichrovsky

Es war am 18. Februar 1996. Ignatz Bubis fuhr nach Sao Paulo, um seine erst vor kurzem wieder- entdeckten Verwandten zu besuchen. Jahrzehntelang ging er davon aus, daß kaum jemand aus seiner Familie den Krieg überlebt hatte. Doch dann eines Tages, als er, ohne eine konkrete Antwort zu erwarten, in den Archiven von Yad Vashem, dem Holocaust-Zentrum in Israel, nach den verschiedenen Namen seiner Verwandten fragte, bekam er die für ihn überraschende Antwort, daß ein Teil der als verschollen geltenden Familienmitglieder sich nach Südamerika retten konnte.

Ich traf ihn nach dieser Reise auf seinem Rückweg nach Europa in einem Hotel in New York. Was immer Bubis dort in Brasilien erlebte und sah, es hat ihn verändert wie kaum ein anderes Ereignis in den letzten Jahren seines Lebens. Er zeigte mir in New York jenes Foto, über das er in vielen Interviews später sprach. Ein kleines Mädchen stand auf einer Wiese in einem hellen Sommerkleid. Im Hintergrund ein paar Bäume. Sie war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, lächelte in die Kamera und hielt mit den Fingerspitzen den Rand ihres Kleides. Wenige Jahre später wurde sie ermordet, ebenso ihre Eltern und noch Dutzende andere Verwandte. "Das war meine Nichte Rachel", sagte Bubis damals zu mir. "Der Blick dieses Mädchens verfolgt mich ständig. Es ist, als würde sie mich fragen, warum ich in dem Land geblieben bin, das für ihren Tod und den Tod ihrer Eltern verantwortlich ist."

Zwei Tage verbrachten wir in New York gemeinsam. Von all den Stunden, die ich mit Bubis zusammen an seiner Biographie arbeitete, waren dies die intensivsten und interessantesten. Bubis sagte später in vielen Gesprächen – zuletzt vor ein paar Wochen in seinem letzten Interview im Stern –, daß besonders dieses Foto ihn an die Grausamkeit des Holocaust erinnerte. Doch nach meinen Erinnerungen war dies nur die halbe Wahrheit.

Die Reise nach Südamerika erschütterte Bubis aus noch ganz anderen Gründen. Er erlebte in Sao Paulo mit seinen Verwandten so etwas wie ein "normales Leben" einer jüdischen Minderheit. In seiner Biographie steht das alles geschrieben, doch keiner der vielen Rezensenten machte sich die Mühe, diesen – wahrscheinlich wichtigsten – Teil des Buches genau zu verstehen. Sie wiederholten die alten Klischees des "Mahnmals Bubis", des "Symbols der Versöhnung" usw; doch der grimmige, alte Mann wollte schon lange kein Symbol mehr sein.

Südamerika erinnerte ihn an seine Kindheit, an Familienfeste, Synagogen ohne Wachsoldaten, jüdische Sportvereine, Gemeindevorsteher, die ohne gepanzerte Autos herumfahren, an eine ungebrochene jüdische Tradition, in der von einer Generation an die nächste vor allem die Lebenslust, die Freude und der Optimismus weitergegeben wird – und nicht die ewige Verpflichtung, an die Toten in den Lagern zu denken.

Er stellt sich in seiner Biographie die verzweifelte Frage, wie sein Leben ausgesehen hätte, hätte er Deutschland nach dem Krieg verlassen. Wäre er dort ebenso durch das Land gereist, um Vorträge über die Vergangenheit und gegen den Haß zu halten? Oder hätte er sich mehr um das Leben als um den Tod gekümmert? Bubis hat die Reise nach Brasilien aus seiner Bahn geworfen, aus der endlosen Einbahn zur Versöhnung, ohne je dort anzukommen. Auch der begeisterte Applaus des Publikums, links und rechts dieser Einbahn, konnte ihn nicht mehr davon ablenken, daß er im Grunde genommen in Deutschland immer nur benutzt wurde.

"Ich habe in Deutschland eine reine Alibifunktion", sagte er einmal zu mir verbittert auf dem Weg von einem Interview zum nächsten Vortrag, um dort ein austauschbares Publikum von der Unverträglichkeit der ewigen Schuld zu entlasten. Er genoß es, gefeiert und verehrt zu werden, diskutierte mit jedem, sogar mit ehemaligen SS-Offizieren, und gab seinen Gesprächspartnern am Ende einer noch so harten Diskussion immer das Gefühl der Befreiung.

Ein erfolgreicher Mann, finanziell, gesellschaftlich und politisch, und dennoch immer einsam, düster, nachdenklich und zuletzt auch pessimistisch. Nach seiner Brasilienreise stürzte er sich wieder in den hektischen Alltag. Ein Termin jagte den anderen, nur wenige Stunden Schlaf, das Telefon läutete ununterbrochen, und keiner, der seinen Rat, seine Unterstützung, ein Interview oder auch nur ein Gespräch suchte, wurde abgewiesen. Doch nichts funktionierte plötzlich so wie früher.

Diese "Normalität" der Juden in Sao Paulo, seiner eigenen Verwandten, ließ ihn nicht mehr los. Wenn dieser Mann einen Fehler hatte, dann war es seine rücksichtslose Ehrlichkeit, auch die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. In den Wochen nach Sao Paolo wurde jeder Vortrag, jede Diskussion, jeder Besuch eines zerstörten Friedhofs, einer beschädigten Synagoge zu einer Reise in seine eigene Vergangenheit, die immer wieder bei der Frage endete: Warum nur bin ich hier in Deutschland geblieben?

"Ich gehe über alte Friedhöfe, besuche ehemalige Konzentrationslager und Orte, in denen die Synagogen, wenn sie nicht zu Supermärkten umgebaut wurden, mit einer Gedenktafel versehen sind oder als Museum fungieren. Juden gibt es an diesen Orten keine mehr. Fast immer geht es um Tote, fast nie um Lebende. Das ist der große Unterschied zu meiner Reise nach Brasilien!" So steht es in Bubis Biographie, und keiner schaute hin.

Es war diese grausame Ehrlichkeit, die keine Rücksicht gegen niemanden kannte, die ihn plötzlichen an die quälenden Lügen der Philosemiten in Deutschland erinnerte und möglicherweise auch an die fatale Benutzbarkeit der offiziellen jüdischen Funktionäre in Deutschland. Der kleinen Gruppe der Juden in Deutschland wurde aus den Gründen des schlechten Gewissens eine überdimensionale gesellschaftliche Bedeutung gegeben. Der Vorsitzende dieser Winzig-Gemeinde von 30.000 oder 50.000 Mitgliedern hatte einen reservierten Ehrenplatz bei Staatsbesuchen, Präsidentenempfängen und Regierungsdelegationen. Doch wen repräsentierte der Vorsitzende bei all diesen offiziellen Anlässen? Etwa die Mitglieder der Deutschen Jüdischen Gemeinden? Sicher nicht! Die wurden dort weder erwähnt noch je mit eingeladen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland saß zwischen den hohen Herren bei all diesen Veranstaltungen, bei denen er eigentlich nichts zu suchen hatte, als Beweis für das Ende der "Großen Deutschen Schuld".

"Seht her!" schienen seine Gastgeber allen anderen zuzurufen, "was regt ihr euch immer noch auf! Hier sitzt einer, der das alles erlebt hat und jetzt unser Freund ist! Wäre er denn unser Freund, wenn wir nicht anders wären? Würde er zwischen uns sitzen, wenn wir wie unsere Väter denken und handeln?"

Bubis wurde zum lebenden und vorzeigbaren Alibi für die Nachkommen der Täter. Das Opfer wurde somit zweimal mißhandelt. Einmal durch die Täter von damals, das zweite Mal von ihren Nachkommen, um den Unterschied hervorzuheben. Wer hält das schon aus? Nicht einmal eine so starke Persönlichkeit wie Ignatz Bubis.

 

Peter Sichrovsky lebt als Schriftsteller in Wien und San Franzisco. Er schrieb 1996 mit Ignatz Bubis die Autobiographie "Damit bin ich noch längst nicht fertig"


 
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