© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/99 20. August 1999


19. August 1989: DDR-Urlauber nutzen ein "Paneuropa-Picknick" zur Flucht nach Österreich
Der Eiserne Vorhang zerbricht
Kai Guleikoff

Ungarn war schon immer eine Reise wert. Besonders für die Bürger der DDR, die im 40. Jahr des Bestehens ihres Staates lediglich Zugang zu acht Ländern bekamen. Ungarn und die damalige Tschechoslowakei, bis 1918 Bestandteile des Habsburgischen Österreich, waren besonders beliebt. Hier konnten die westdeutschen Verwandten getroffen werden und kulturelle Unterschiede zu den Gastgebern wurden kaum empfunden. So befanden sich im heißen Sommer 1989 fast eine Million DDR-Touristen in diesen Ländern. Doch es war nicht wie in jedem Jahr.

Ungarn hatte im März angekündigt, die Sperranlagen an der 350 Kilometer langen Grenze zu Österreich schrittweise abzubauen. Ein Zeichen für den "Bau des gemeinsamen Hauses Europa" im Sinne Gorbatschows. Am 2. Mai 1989 demontierten ungarische Grenzpioniere die ersten Stacheldrahtzäune und Beobachtungstürme. Der seit dem blutigen Bürgerkrieg von 1956 durch Moskau eingeräumte "Sonderweg" der ungarischen Kommunisten wurde unter nun erleichterten Bedingungen fortgesetzt. Schnell erkannten die Bürger der DDR die Möglichkeiten, den innerdeutschen Todesstreifen über Ungarn zu "umgehen".

Seit den Ergebnissen der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989, hatte sich die Stimmung im deutschen "Arbeiter- und Bauernstaat" weiter verschlechtert. In gewohnter Ignoranz der öffentlichen Meinung, verkündete der Zentrale Wahlausschuß eine Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent und eine Zustimmung zu den Kandidaten der Nationalen Front, dem Zusammenschluß aller Parteien unter der Vormundschaft der SED, von 98,85 Prozent.

Wahlbetrug erzeugte vielfältigen Widerstand

Erstmals erstatteten DDR-Bürger Anzeige wegen Verdachts auf Wahlbetrug. Erstmals wurden derartige Antragsteller daraufhin nicht verhaftet, so wie die Wahlvorstände es erstmals unterließen, "säumige" Wähler am Wohnort aufzusuchen. Die Bildung von Bürgerinitiativen und kirchlichen Gesprächskreisen zum Thema Wahlbetrug und notwendiger Veränderungen in der DDR, konnte mit derartigen "Zugeständnissen" nicht verändert werden. Selbst Erich Honecker mußte in seinen späteren "Moabiter Notizen" einräumen: "Aber aus heutiger Sicht, nach dem Bekanntwerden gewisser Vorgänge besonders in Berlin und Dresden, stellen sich mir in diesem Zusammenhang eine Reihe sehr ernster politischer Fragen. Zunächst: Was hätte eine zwei bis drei Prozent geringere Wahlbeteiligung und selbst ein um zehn Prozent schlechteres Wahlergebnis am Endergebnis geändert?" Erinnert sei an die damaligen Verantwortlichen der genannten Bezirke, Günter Schabowski und Hans Modrow, beide in der Funktion des Ersten Sekretärs der jeweiligen SED-Bezirksleitung. Vorsitzender des Zentralen Wahlausschusses war Egon Krenz. Alle drei gehörten später zum "Reformflügel" im Politbüro der SED.

Mut zum Handeln schöpften die eigenwilligen ungarischen Kommunisten auch aus der Entwicklung im Staatenbündnis des Warschauer Paktes. Am 7. Juli 1989 fand in Rumäniens Hauptstadt Bukarest die turnusgemäße Tagung der obersten Führungsebene statt, des Politisch Beratenden Ausschusses. Das Vereinte Oberkommando der Bündnisstaaten nahm mit dem Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte und dem Stabschef des Vereinten Kommandos regelmäßig daran teil.

Gorbatschows Forderung, daß jede kommunistische Partei für ihr Land verantwortlich sei, forderte lang angestaute Eigeninitiativen heraus. Besonders die "Reformer" in Ungarn und Polen beriefen sich auf Gorbatschows Rede vor der Generalversammlung der UNO am 7. Dezember 1988. Hier kündigte er einseitige Abrüstungsmaßnahmen an, weil es nicht mehr um Kapitalismus oder Sozialismus gehe, sondern um allgemeinmenschliche Interessen, um die Entwicklung von Demokratie in der Welt. Die "Aufgabe der Theorie vom Klassenkampf unversöhnlicher Gesellschaftssysteme" hob auch die global beanspruchte Führungsrolle der KPdSU auf. Moskau begann sich primär auf seine Innenpolitik zurückzuziehen. Über das Ende dieser letzten Beratung der höchsten Führungsebene des Ostblocks schreibt der damals teilnehmende Verteidigungsminister der DDR, Armeegeneral Heinz Keßler, in seinem Buch "Zur Sache und zur Person": "So verlief die Sitzung der Generalsekretäre ebenfalls ohne eine gründliche Debatte der gemeinsamen, sehr komplizierten Probleme. Sie war nur kurz und endete abrupt. Anders als sonst erfolgte die Abreise der Delegationen rasch, ja nahezu überstürzt. Begründung: Die Aufgaben in den einzelnen Ländern drängten. Ebenfalls anders als sonst flog die sowjetische Delegation sogar als erste ab." So sang- und klanglos verstummte das letzte Sprachrohr der Weltrevolution. Jeder führende Kommunist fühlte sich von jetzt an aufgerufen, zur Selbstrettung überzugehen. Den Millionen von Mitgliedern in den kommunistischen Parteien wurde weiterhin die Wahrheit vorenthalten. Die Folge waren Parteiaustritte und die Verweigerung der Parteiarbeit in zahlreichen Parteigruppen und Grundorganisationen.

Vom 15. Juli 1989 an verschafften sich die ersten DDR-Flüchtlinge Zugang zu den westdeutschen Botschaften in Budapest und Prag, sowie zur Ständigen Vertretung in Ost-Berlin. Seit der medienwirksamen Aktion des gemeinsamen Durchtrennens des Grenzzaunes durch den ungarischen Außenminister Gyula Horn und seinem österreichischen Kollegen Alois Mock am 27. Juni 1989 begannen zahlreiche Deutsche aus der DDR über Ungarns "grüne Grenze" zu fliehen. Am 10. August erklärte das ungarische Innenministerium, aufgegriffenen DDR-Flüchtigen keinen entsprechenden Sichtvermerk mehr in ihren Reisepaß einzutragen. Der folgende Protest der DDR blieb unbeantwortet. Die Zahl der Flüchtenden wuchs daraufhin auf über 100 Personen täglich.

Um den politischen Druck auf die DDR und andere "Betonkommunisten" weiter zu erhöhen, beschloß die Paneuropa-Union ein "Picknick" im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet zu veranstalten. Dabei sollte der dortige Grenzzaun entfernt werden, um die Offenheit und Nähe Ungarns zu Mitteleuropa zu demonstrieren. Als Datum wurde der Tag des heiligen Stephan ausgewählt, der 19. August. Als Veranstaltungsort diente eine Freifläche in der Nähe des ungarischen Sopron und des österreichischen Mörbisch im Burgenland. Die örtliche Paneuropa-Union und das Ungarische Demokratische Forum (MDF) bereiteten die Veranstaltung vor. In den Zentren für DDR-Urlauber wurden hunderte Einladungen verteilt. Schirmherr war der Präsident der Internationalen Paneuropa-Union, Otto von Habsburg. Vor Ort vertrat seine fließend ungarisch sprechende Tochter Walburga ihren Vater. In Vertretung von Staatsminister Imre Pozsgay nahm sein Staatssekretär teil. Die Hymne des alten Ungarn erklang zu diesem Nationalfeiertag des Jahres 1989, feierliche Ansprachen zur gemeinsamen europäischen Aufgabe wurden gehalten, und im Beisein der zahlreich erschienenen Presse trennte die jüngste Habsburgtochter den Grenzzaun auf. Beifall der meheren tausend Teilnehmer und Rufe wie: "Für ein Europa ohne Grenzen!" oder "Laßt uns gemeinsam Wien besuchen!"

In die sich anschließende "Wanderung über die Grenze" schlossen sich einige hundert DDR-Bürger an. Mit ihren Kindern und Handgepäck begannen sie zu laufen, als könnten die wenigen anwesenden ungarischen Grenzposten sie noch aufhalten.

Nach Angaben des anwesenden Georg von Habsburg, der dort für das erste ungarische Privatfernsehen drehte, nutzten 661 DDR-Urlauber das "Paneuropa-Picknick" zur Flucht. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach von "etwa 700 Deutschen aus der DDR", die Printmedien von "etwa 900 DDR-Bürgern". Jedenfalls war es die größte Massenflucht seit dem Mauerbau von 1961.

Starrsinn der DDR-Führung bewirkte Selbstisolierung

Die Propaganda von der "Republikflucht Einzelner" konnte nicht aufrechterhalten werden. Dafür wurde der ungarische Außenminister Gyula Horn der "Kungelei mit dem Klassenfeind" bezichtigt. Dafür hätte Ungarn ein Handgeld von einer halben Milliarde Mark aus Bonn erhalten. In dieser politisch aufgeheizten Stimmung wurde noch am 21. August 1989 der DDR-Flüchtling Kurt Werner Schulz von einem ungarischen Grenzwächter erschossen. Doch die Fluchtwelle war auch durch tragische Zwischenfälle nicht mehr aufzuhalten. Seit Anfang August 1989 registrierte die Bundesrepublik Österreich mehr als 10.000 Übersiedler aus der DDR.


 
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