© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/99 20. August 1999


Multiple Identität
von Andreas Mölzer

s scheint so, als lebten wir in den Tagen der wohl zentralsten Zukunftsentscheidung unseres Kontinents. Verändert sich das Europa der gewachsenen Völker- und Kulturenvielfalt in einen "melting pot", oder wird sich im Gegenteil der sich integrierende Kontinent in einer "Festung Europa" einmauern? Für beide Entwicklungsrichtungen gibt es gegenwärtig Anzeichen. Einerseits ist die multikulturelle Gesellschaft in weiten Teilen Europas längst Faktum. Das herkömmliche ius sanguinis im Staatsbürgerschaftsrecht der wesentlichen europäischen Staaten wird zunehmend durch das ius soli ergänzt. Eine Euro-Bürgerschaft ist deshalb noch längst nicht auszumachen.

Unabhängig davon stellt sich eben die Frage, ob dieses künftige Europa des 21. Jahrhunderts zu einem "melting pot" werden wird oder zu einem vom Eth-nopluralismus gekennzeichneten Gemeinwesen. Der "melting pot" würde wohl nicht nach US-amerikanischem Muster funktionieren, sondern vielmehr nach dem brasilianischen oder nach dem Balkan-Modell vonstatten gehen. Der US-amerikanische "melting pot" bedeutet ja nichts anderes als die Annahme des "American way of life" als Kultur- und Lebensform, und zwar durch alle einwandernden Nationen. Von den lateinamerikanischen Zuwanderern wird dieses Prinzip allerdings zunehmend durchbrochen. Das brasilianische Modell würde völlige ethnisch-kulturelle Vermischung und Nivellierung auf den simpelsten zivilisatorischen Nenner bedeuten. Die Balkanisierung hingegen würde eine Überschichtung der Ethnien in Form einer brisanten Gemengelage bedeuten.

Ein solcher "melting pot" würde zwangsläufig eine Ghettogesellschaft mit Bürgerkriegen und Verteilungskämpfen, mit permanentem Sprachenstreit um nationale Besitzstände nach sich ziehen. Rassenkriege, die Kämpfe religiöser Fundamentalisten und härteste soziale Unruhen wären zwangsläufig die Folge. Der Import von Auseinandersetzungen aus der Dritten Welt auf europäisches Territorium ließe sich in einer Zuwanderergesellschaft überhaupt nicht ausschließen. Während in den Heimatregionen der zuwandernden Menschen, die häufig totalitär geführt werden, diese Auseinandersetzungen unterdrückt werden, könnten sie im freien Westen, in der toleranten Europäischen Union ungehindert ausgetragen werden.

Die vernünftige Alternative zu dieser Ghettogesellschaft eines europäischen "melting pot" wäre die Erhaltung des historisch gewachsenen, europäischen Ethnopluralismus: die Erhaltung der Völker und Volksgruppen möglichst in ihren traditionellen Siedlungsgebieten und Identitäten. Die Pflege der europäischen Sprachen, die Eingrenzung der Zuwanderung auf ein quantitatives Maß, welches die Identität dieser Völker nicht gefährdet, wären natürlich dazu vonnöten. Freier kultureller Wettbewerb an den Grenz- und Überschneidungsbereichen der historisch gewachsenen europäischen Völker dürfte dabei nicht unterbunden, sondern vielmehr gefördert werden. Die Rolle der insbesondere im mittel- und osteuropäischen Bereich siedelnden Volksgruppen und ethnischen Minderheiten müßte dabei EU-rechtlich gesichert werden, insbesondere dürften ihre kulturellen Sonderrechte nicht durch Zuwanderungsvolksgruppen gemindert werden.

Diese ethnopluralistische, historisch-evolutionäre Variante der europäischen Zukunft könnte und müßte so etwas wie einen neuen europäischen Ethos entwickeln: Die Selbstverpflichtung zur Erhaltung der kulturellen Vielfalt, die Entwicklung spezifisch europäischer Bürgerrechte, denen spezifisch europäische Bürgerpflichten entsprechen müßten, mit dem Ziel, dieses Europa zu einer Domäne der Humanität, der Freiheit und des Friedens zu machen.

In ihrer optimalen und vollkommensten Ausprägung muß diese Variante allerdings wohl ein schöner Wunschtraum bleiben. Die Realitäten unserer Tage weisen vielmehr auf eine zweigleisige Entwicklung hin, die in einer gewissen Parallelität miteinander vonstatten geht: Einerseits entwickeln sich multikulturelle Gesellschaften innerhalb eines Europa der Vaterländer, andererseits erhält sich der historisch gewachsene Ethnopluralismus in einem multikulturellen, sich mehr oder weniger freiwillig öffnenden Europa. Das Ergebnis wird so etwas wie eine multiple europäische Identität im 21. Jahrhundert sein.

Wenn man das europäische Zentrum geopolitisch definieren will, kann man es wohl als den Überschneidungsbereich der drei großen europäischen Kulturen, der germanischen, der romanischen und der slawischen Welt, rund um den deutschen Volks- und Kulturraum in Mitteleuropa bezeichnen. Die Ostöffnung in der Folge des Jahres 1989 und die auf uns zukommende Osterweiterung der Europäischen Union wird zweifellos eine Verlagerung dieses Zentrums vom Rhein, vom alten karolingischen Zentralraum zwischen Brüssel, Aachen, Reims und Köln, der kurioserweise auch die Zentralachse der jungen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war, nach Osten zeitigen. Ein sich ungeheuer dynamisch entwickelndes "Großberlin" mit Ausstrahlungen nach Skandinavien, ins Baltikum und tief nach Osteuropa hinein wird das Koordinatenkreuz des künftigen europäischen Raumes bilden.

Geistig definiert sich das Zentrum Europas zweifellos über den Wirkungsraum des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Papst und Kaiser als einstige Fixpunkte des Abendlandes als Doppelgestirn, welches die Christenheit überstrahlte. Auch nach der Säkularisierung, den Napoleonischen Kriegen, die das alte Europa erstmals auf den Kopf stellten, nach der europäischen Dominanz über den Planeten in den Jahrzehnten des Imperialismus, nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert, nach der Teilung der Welt in die Herrschaft zweier Supermächte und nach der Entstehung einer postmodernen Welt im Zeichen des "global village" bleibt dieser Strahlungsraum des alten Heiligen Reiches das geistige Herzstück Europas.

Die zentripetalen Kräfte, welche dieses Herzstück zu entwickeln vermochten, gibt es noch immer. Sie werden wohl auch im nächsten Jahrhundert die Basis für das, was wir zuvor als neuen europäischen Ethos bezeichneten, bilden.

Die europäischen Ränder hingegen, die immer wieder zentrifugale Tendenzen entwickeln, weisen naturgemäß über Europa im engeren Sinne hinaus. Der Westen weist nach Übersee, nach Nord- und Südamerika. Der Mittelmeerraum weist nach Afrika, die skandinavische Welt bildet so etwas wie eine Randzone, und Osteuropa verweist uns in Richtung des asiatischen Kontinents. Der Balkan bleibt vorläufig der explosive Unterbauch des Kontinents.

l Der Mittelmeerraum, die romanische Welt vorwiegend, Spanien, Südfrankreich, Italien, aber auch der dalmatinische Überschneidungsbereich zum Balkan hin, Griechenland mit seinem scharfen Antagonismus zur Türkei, dieser gesamte Raum stellt einerseits den ökonomisch und sozial schwächsten Bereich der Europäischen Union dar, andererseits aber sind diese weitgehend auf Halbinseln situierten Staaten die Frontlinie am weichen Unterbauch der Union gegenüber Afrika und dem schwarzafrikanischen Einsickern. Hier ist Europa offen wie nirgendwo sonst, hier werden in den kommenden Jahren zweifellos auch mehr als anderswo Bestrebungen deutlich werden, Grenzen zu errichten, wie sie eine "Festung Europa" benötigt. Andererseits aber ist diese mediterrane Welt von der Kultur und vom Lebensstil her einer der vitalsten Faktoren des neuen Europa.

l Der Westen ist Europas Tor zur überseeischen Welt. Spanien und Portugal haben Anteil an der romanischen Welt des Mittelmeers, bilden aber andererseits auch Mutterland und Brückenkopf des lateinamerikanischen Kontinents in der Europäischen Union. Diese Funktionen üben sie kulturell und ökonomisch aus und vermögen somit, den sozioökonomisch und machtpolitisch chaotischen lateinamerikanischen Subkontinent, der in seiner Katholizität doch wieder stark im europäischen Strahlungsfeld liegt, zu beeinflussen und zu binden.

Frankreich hat aber über die Languedoc zwar auch Anteil am lateinischen Mittelmeerraum, gehört im wesentlichen aber zum altkarolingischen Zentralraum der Union. Gemeinsam mit Deutschland, mit Oberitalien, dem südlichen England und den Benelux-Staaten ist es eher dem Zentrum als dem Rand Europas zuzuordnen.

England, die britischen Inseln überhaupt, nehmen eine Sonderstellung ein. Sie sind nicht zuletzt Mutterland und Brückenkopf der angelsächsischen Welt in Übersee, sie stellen aber auch so etwas wie einen Flugzeugträger eben dieser angelsächsischen Welt, insbesondere der USA, vor der europäischen Küste dar. Die immer wieder auftretenden Vorbehalte der Briten gegenüber der europäischen Integration, zuletzt gegenüber der Einführung der europäischen Einheitswährung Euro, stehen zweifellos in jener Tradition, welche England in seiner Realpolitik immer stärker auf die Ozeane und überseeischen Interessen verwiesen hatte als auf den europäischen Kontinent. Die skandinavische Welt bildet den ökonomisch und sozial wohl relativ problemlosesten Bereich des künftigen Europa. Einerseits sind die skandinavischen Staaten mit ihren liberalen Gesellschaftsordnungen so etwas wie Laboratorien für sozialstaatliche Entwicklungen, andererseits eben Experimentierfelder für das Funktionieren des Liberalismus in der europäischen Gesellschaft. Ihr kultureller "Input" in das Europa der Zukunft dürfte einigermaßen beschränkt bleiben.

l Im Osten Europas, welcher wohl als letzter Bereich in die Integration einbezogen werden wird, existiert die slawische Welt in Form eines breiten Gürtels im Überschneidungsbereich zu Mitteleuropa. Polen, Tschechen, Slowaken, Kroaten, Slowenen werden sich, wenn auch als Nachzügler, immer stärker der mitteleuropäischen Entwicklung und damit jener des Zentrums angleichen. Das gleiche, vielleicht sogar noch in höherem Maße, ist in Hinblick auf die drei baltischen Republiken zu sagen.

Sowohl die westslawischen Nationen als auch die baltischen stehen allerdings im Spannungsfeld zwischen dem deutsch dominierten Mitteleuropa und dem russisch geprägten Osten. Ohne wirklich sagen zu wollen, wo nun da die endgültige Grenze Europas liegen kann, darf festgestellt werden, daß Rußland und die ihm gefügige ungeheure Landmasse bis Wladiwostock so etwas wie der "wilde Osten" Europas bleiben wird. Dieser kann zweifellos bestenfalls in Assoziationsform an die Gemeinschaft gebunden werden. Nicht zu unterschätzen ist für die europäische Zukunft auch die sicherheitspolitische Bedrohung aus dem Osten: Ob es nun ein russischer Bonapartismus – Alexander Lebed läßt grüßen – sein wird oder die Herrschaft der organisierten Mafia-Kriminalität, die zum Sicherheitsproblem werden kann, ist ungewiß. Trotz der als Phänomen und Realität zu akzeptierenden typischen slawischen Passivität ist eine explosive Entladung, insbesondere aufgrund der ungelösten sozialen Probleme im Riesenraum Rußlands nicht auszuschließen. Nicht zu vergessen sind die großen Nukleararsenale und denkbaren gewaltigen Umweltkatastrophen, die Europa bedrohen können. Der Balkan mit seinen trotz Supermacht- und Nato-Interventionen ungelösten ethnischen, kulturellen, machtpolitischen, militärischen und religiösen Konflikten bleibt das explosive Problemfeld Europas. Hier bündeln sich die Konfliktfelder, hier sind sozialer Sprengstoff, ökonomische Rückständigkeit und martialischer Wahn in ebenso hohem Ausmaß vorhanden wie Nationalitätenhaß und religiöse Konfrontation. Der Balkan bleibt auch der Puffer zur islamischen Welt.

l Der Islamismus als Bedrohung der europäischen Identität und gleichzeitig als nicht mehr zu eliminierender Beitrag zu einer künftigen europäischen Identität kommt gegenwärtig aus der territorialen Mitte. Insofern aus der Mitte, als die postkoloniale Zuwanderung, in Frankreich aus Nordafrika, in England aus den ehemaligen Kolonien des Empires und aus dem Nahen Osten, und in Deutschland aus Anatolien, so etwas wie ein anatolisch-nahöstlich-nordafrikanisches islamisches Potential zeitigen, das nicht mehr von außen auf Europa einwirkt, sondern bereits eben aus dem Inneren, aus dem Zentrum. Moslems, die in der dritten Generation in Deutschland, Frankreich und England leben, werden ihren religiös-kulturellen Einfluß in der Europäischen Union der Zukunft ohne Frage geltend machen. Sie sozialisieren sich vorwiegend über den Islam und nur in zweiter Linie ethnisch. Die gemeinsame religiöse Sozialisierung bedingt auch gemeinsame politisch-gesellschaftliche Wirksamkeit, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis islamische Parteien auch in den europäischen Parlamenten ihre Stimme erheben.

Europa wird also in Zukunft vom Zentrum ebenso wie von seinen Rändern aus in gegenseitiger Befruchtung, aber auch in Reibung und in Konflikten, die es eben zu bewältigen gilt, sozioökonomische und politische Energien entwickeln müssen. Wie weit einerseits dieses Zentrum und andererseits die skizzierten Ränder durch das Überhandnehmen von Immigration und multikultureller Konfliktgesellschaft geschwächt werden, ist ungewiß. Die eingangs diagnostizierte Entwicklung hin zu einer multiplen europäischen Identität kann durchaus neue kreative Potentiale für das Abendland schaffen. Die Kräfte der Anarchie und des Chaos dürfen aber nicht in eben jenem Maße überhand nehmen, daß der neue europäische Ethos sie nicht bändigen könnte.

 

Andreas Mölzer, Publizist, ist kulturpolitischer Berater des Kärtner Landeshauptmanns und Vorsitzenden der Freiheitlichen Partei Österreichs, Jörg Haider, sowie Mitherausgeber der in Wien erscheinenden Wochenzeitung "Zur Zeit".


 
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