© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/99 27. August 1999


Pankraz,
Fausts Blindheit und die Welt der Facilitäten

Wenn man den alten Goethe nach der Zukunft befragte, so pflegte er nach übereinstimmendem Zeugnis zu antworten: "Es kommt jetzt die Zeit der Facilitäten." Damit meinte er die Zeit der Machbarkeiten und der Bequemlichkeiten für die große Masse, die Zeit der sogenannten "technischen Errungenschaften".

Er kannte die berühmte "Nova Atlantis" des britischen Lordkanzlers und Wissenschaftsreformators der Shakespearezeit, Francis Bacon, wo schon alles, was an solchen Facilitäten überhaupt nur vorstellbar ist, exakt beschrieben und vorausgesagt wurde. Doch im Gegensatz zu Bacon war Goethe nicht im geringsten enthusiasmiert durch diese facilitären Zukunftsaussichten, blickte ihnen vielmehr mit Skepsis und leichter Angewidertheit entgegen.

Was Bacon betrifft, so sah der in der technisch voll equipierten Zukunft die Erfüllung sämtlicher Menschheitsträume, ein Sozialparadies ohnegleichen, "ein neues Haus Salomo", wie er jubelnd verkündete. Seine "Nova Atlantis" kennt – im Vergleich zu den Sozialutopien der Thomas Morus oder Thomas Campanella – nicht die geringsten Einschränkungen für das Individuum. Es braucht bei Bacon keine sozialen Einschränkungen mehr, denn alles besorgen uns die Roboter und die glücklichen Erfindungen.

Nicht nur besteht höchste Mobilität in der "Nova Atlantis", fliegen Flugzeuge und fahren Autos und tauchen Unterseeboote, annonciert werden auch Staubsauger, medizinische Bäder, ordentliche Brillen, Mikroskope, Himmelsfernrohre, und und und. Ein spezieller Gag sind die Telefone, welche Sprachwandler in sich tragen, so daß, wenn ein Chinese vorn hineinspricht, seine Botschaft im schönsten Englisch am anderen Ende herauskommt.

Vor allem gibt es viele, viele Forschungslaboratorien, Weltraumlabors auf den Bergen, Gesundheitslabors in den Ebenen, Treibstofflabors unter der Erde, und faktisch an jeder Ecke eine biologische Versuchsstation. Dort werden neue Düngerarten entwickelt, neue Tier- und Pflanzenarten gezüchtet, Meerentsalzungsanlagen konstruiert, gesundheitsförderliche Diätpläne ausgearbeitet, eine riesige Palette von allen möglichen Pillen und sonstigen Arzneimitteln angeboten. Nicht einmal ein "Betrugslabor" fehlt, in dem fälschungssichere Pässe und Erlaubnisscheine fabriziert werden und raffinierte Methoden entwickelt, Betrügern aller Art auf die Schliche zu kommen und sie unschädlich zu machen.

Mit einem Wort, Bacons Haus des Salomo von 1620 ist genau das, was wir heute haben, und gerade deshalb bereitet die Lektüre so gemischte Gefühle. Wir lesen hier, wie sich ein kluger Mann vor fast vierhundert Jahren leidenschaftlich danach abstrampelt, das zu kriegen, was wir also heute haben. Er fragt gar nicht mehr, wie noch Thomas Morus, ob die Menschen denn eine bestimmte Sozialordnung befolgen sollten, um zum Glück zu kommen. Er sagt: Das und das müssen wir erfinden oder konstruieren, und dann sind wir glücklich, dann wohnen wir todsicher im Haus des Salomo.

Und wir Heutigen können ganz konkret vergleichen und abwägen, ob wir wirklich im Hause Salomos wohnen. Ach, es kann davon bekanntlich keine Rede sein, im Gegenteil, die schöne Wissenschaft hat die übelsten Nebenfolgen entfaltet, einige Zeitgenossen beginnen schon, sich nach der Zeit des Francis Bacon zurückzusehnen. Das ist im Grunde recht komisch und könnte gut die Vorlage für eines der Shakespearestücke abgeben, die Bacon, Viscount of St. Alban, ja ebenfalls geschrieben haben soll.

Goethe nun, um auf den zurückzukommen, hatte noch keineswegs unsere modernen Vergleichsmöglichkeiten, seine Zeit war, was die Facilitäten betrifft, durchaus noch auf dem Stand der Shakespeare- und Bacon-Zeit. Aber in Goethe wohnte eben, wie das Thomas Mann in seiner berühmten Goetherede von 1949 sehr schön herausgestellt hat, ein "Dämon", er sah die Vorderseite der Dinge wie ihre Rückseite, auch was die zukünftigen Dinge anging, ihr Gutes wie ihr Böses.

Sein Faust verabschiedet sich gegen Ende des Dramas von allen "Abenteuern der Erkenntnis" (Th. Mann), um sich nur noch sozialen Abenteuern zu widmen, ungeheuerer Umgestaltung der Natur im Interesse menschlichen "Gewimmels" ("Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,/ Mit freiem Volk auf freiem Boden stehn"). Doch da ist Faust schon blind. Triumphierend lauscht er dem Spatenklang und glaubt, es seien die Spaten der zur Umgestaltung herbeigepreßten Arbeiter. Aber in Wirklichkeit sind es die schlotternden Lemuren, die ihm auf Geheiß des Mephistopheles sein eigenes Grab schaufeln. Höllische Ironie!

Thomas Mann ist damals vor fünfzig Jahren, im "Aufbaujahr" 1949, schnell über diese ironische Pointe Goethes hinweggeglitten. Allzu groß waren noch überall die Trümmerberge, nackte Not allenthalben und das berechtigte Bedürfnis nach Rekonstruktion, nach Wiederherstellung des unbedingt Nötigen. Immerhin sprach Mann in seinem Vortrag, den er in völlig gleicher Form sowohl in Frankfurt am Main wie in Weimar hielt, tapfer von einer "prinzipiellen Tragik der Tat" und pflichtete Goethe bei, daß "Erlösung", Befreiung aus dem Teufelspakt, nie und nimmer durch die Installierung von Facilitäten, sondern einzig durch Liebe, fern aller Facilitäten, zu erlangen sei.

Heute müßte man die Botschaft ungleich schärfer formulieren, müßte voll die dämonische Schau Goethes zur Geltung bringen. In jeder Sache steckt von vornherein ihr Gegenteil und der Keim ihres Untergangs. Je gewaltiger sie sich aufbaut, umso größer der Kladderadatsch, mit dem sie eines Tages umsinkt, so daß es nur weise ist, es niemals zu weit zu treiben, auch mit der Ausgestaltung und Anbetung der Facilitätenwelt nicht. Fausts "höchster Augenblick" läßt sich auf keinem Feld wirklich, sondern immer nur in der Ahnung genießen.


 
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