© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/99 27. August 1999


Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1959
Tagebuch von penibler Sorgfalt
Elvira Seidel

Die Tagebücher des Dresdner Romanisten Victor Klemperer (1881–1960) sorgen seit Jahren für Aufsehen. Der Sprachwissenschaftler und Verfasser der "LTI" (1947), einer mittlerweile legendären Analyse der Sprache des Dritten Reiches, führte seit seiner Jugend bis kurz vor seinem Tod mit penibler Sorgfalt Tagebuch. Seine Aufzeichnungen aus der NS-Zeit, die die Verfolgung, der er als Jude ausgesetzt war, minutiös schildern, wurden ein sensationeller Erfolg. Jetzt sind auch die späten Tagebücher erschienen, die den Zeitraum von 1945 bis 1959 umfassen.

Klemperer war 1935 aus dem Dienst der Technischen Universität Dresden entlassen worden, an der er seit 1920 als Ordentlicher Professor tätig war. In den Kriegsjahren mußte er Zwangsarbeit leisten und war von jeglicher Forschung abgeschnitten. Nur seine Ehe mit einer "Arierin" bewahrte ihn vor dem Schlimmsten. Bei Kriegsende sind seine akademischen Lorbeeren verwelkt, fachlich ist er nicht mehr auf dem neuesten Stand, und als "nur" rassisch Verfolgter hat er in der sowjetischen Zone keine Aussicht auf Schadensausgleich. Ende 1945 tritt er in die KPD/SED ein. Zur Demokratie, deren Selbstzerstörung er 1933 erlebte, hat er kein Vetrauen mehr, außerdem hofft er, seine Ansprüche und beruflichen Ambitionen als Parteimitglied besser vertreten zu können. Traumatisiert und voller Angst vor einem neuen Antisemitismus ("Ich bin überzeugt, daß die Hitlergesinnung heute in Dresden stärker ist als die communistische", so im Mai 1946), betrachtet er argwöhnisch seine Umgebung. "Widerwärtig, dieses Winseln um Zeugnisse", notiert er im September 1945, als sich bei ihm die Bitten um "Persilscheine" häufen.

Eine sozialistische Gesellschaft erscheint ihm als Alternative dazu. "Ich glaube, wir könnten sehr wohl deutsche Kultur pflegen als sowjetischer Staat unter russischer Führung", notiert er im Februar 1946. Noch in den fünziger Jahren, als er weitgehend desillusioniert ist, will er in der DDR das "kleinere Übel" gegenüber der angeblich nazistisch durchsetzten Bundesrepublik erkennen.

Mit dem Parteieintritt hat er sich von der SED abhängig gemacht. Sie bindet ihn in die Parteidisziplin ein, überfrachtet ihn mit kulturpolitischen Aufgaben und speist ihn mit nachgeordneten Ämtern ab, während sie gleichzeitig im Zug ihrer machiavellistischen Bündniskonzeption bürgerliche Wissenschaftler, die zwischen 1933 und 1945 ihren akademischen Ruhm mehren konnten, mit eben jenen lukrativen Lehrstühlen, Rektoraten oder Ordinariaten in Leipzig oder Berlin zu ködern versucht, auf die er selber gehofft hat. Resigniert bezeichnet er sich als "SED-Prof.", der immer wieder "zwischen allen Stühlen" sitzt.

Zum Kommunisten aber kann er seiner Herkunft und seinem Habitus nach nicht werden. Er registriert, daß der Hochschulbetrieb erneut reglementiert wird und SED-Funktionäre nur darauf warten, "aufzuräumen mit der ‘sogenannten Objektivität’ der Wissenschaft!" Die Abschnürung der SBZ vom Westen zeichnet sich ab. Im Januar 1946 hat er den Eindruck, "als wolle nur der Norden diese (deutsche) Einheit, Westen nicht, Süden erst recht nicht". Klemperer, der zwischen 1912 und 1920 in München wohnte und 1919 Außerordentlicher Professor wurde, flüchtet sich in die Scheinrationalisierung der Politik: "Was soll die innerlich nie vorhanden gewesene Verbindung mit Bayern?! So sehr habe ich mich verändert?" Im Juni 1946 stellt er fest: "(...) ständig gilt Bayern uns u. dem Russen als feindliches Ausland". Ende Mai 1949 in West-Berlin hat er das "durchdringende Gefühl, im Ausland, im feindlichen, in einer absolut anderen Welt" zu sein.

Zur gleichen Zeit äußert er sich in der Diktion Oswald Spenglers über die sowjetische Ästhetik, die in der DDR als vorbildhaft gilt: "Der primitive Geschmack. Und doch sind diese Primitiven die Träger der kommenden Welt." Und noch während er an der "LTI" arbeitet, sammelt er bereits Material für eine "LQI". Die SED-Propaganda, die permanent Feinde "entlarvt", den "Neuen", den "Sowjetmenschen" beschwört, über "Tango-Jünglinge aus Westberlin" höhnt und eine "parteiliche Justiz" preist, bietet dafür reichlich Anhaltspunkte.

Die Staatsgründung der DDR am 7. Oktober 1949 stimmt ihn resignativ: "Das tobt seit gestern im Rundfunk. Die Praesidentenwahl, die Aufmärsche, die Reden. Mir ist nicht wohl dabei. Ich weiß, wie alles gestellt u. zur Spontaneität u. Einstimmigkeit vorbereitet ist." Er erkennt, daß er als Volkskammerabgeordneter des Kulturbundes lediglich zur Staffage dienen soll. Im Dezember 1954 schreibt er: "Der Westen widert mich an – aber was die SED treibt, ist mir kaum weniger widerwärtig." Im April 1956, nach Chrustschows Enthüllungen über Stalin, als er gerade in Paris weilt, fällt in einem Brief an ihn der Ausdruck "freie Welt". "Früher hätte mich der Ausdruck mit Erbitterung erfüllt. Jetzt (Stalin etc.) kann ich ihn nicht mehr ganz zurückweisen."

Andererseits hat er sich in der DDR inzwischen eine Position erarbeitet, die ihm eine späte Genugtuung verschafft. Von 1951 bis 1954 wirkt er als Ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität, 1953 wird er in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen, er ist ein gefragter Vortragsredner und besitzt Kontakte bis in die Spitze von Partei und Regierung. Einige große wissenschaftliche Publikationen kann er nachholen. Ende 1957 notiert er: "Völlig desillusioniert im Punkt der Politik." Am 29. Oktober 1959, schon im Krankenhaus, beschließt er das Tagebuch mit dem Satz: "Nachts angst und zerhackter Schlaf nach wie vor". Am 11. Februar 1960 stirbt er in Dresden.

Klemperers Tagebücher belegen, daß man – ein Mindestmaß an intellektueller Redlichkeit vorausgesetzt – bereits sehr früh und von innen heraus den bösartigen Charakter des DDR-Staates erkennen konnte. Wer wissen will, wie es damals hinter der Fassade der hohen Politik, der politischen Verlautbarungen und Propaganda in Deutschland aussah, wird um diese Tagebücher nicht herumkommen.

 

Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945 –1959. Aufbau Verlag, Berlin 1999, 2 Bde., 1820 Seiten, 98 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen